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Anlagestrategien

"Slowbalisierung" statt Globalisierung Paradigmenwechsel in der Weltwirtschaft

Mit der Reorganisation der Lieferketten zeigt sich, dass der Fokus zunehmend auf der Produktion im eigenen Land liegt und dass die Weltwirtschaftsordnung einen Paradigmenwechsel durchläuft.

  • von Chris Burger, CFA, Senior Equity Analyst, LGT Private Banking
  • Datum
  • Lesezeit 5 Minuten

Die Globalisierung, einst Synonym für grenzenlosen Fortschritt, befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, mehrschon in einer Kehrtwende. Denn seit der globalen Finanzkrise von 2008 beobachten wir ein Phänomen, das als "Slowbalisierung" bekannt ist - eine Verschmelzung der Begriffe "slow" (langsam) und (Globalisierung) - und das eine Verlangsamung der Globalisierungsbestrebungen bezeichnet.

Der globale Warenhandel, d. h. die Summe der weltweiten Importe und Exporte, ist ein Abbild dieses Wandels. Von den 1960er-Jahren bis 2008 explodierte er geradezu, seither geht er im Verhältnis zum weltweiten Bruttoinlandprodukt (BIP) stetig zurück.

Resilienz angesichts geopolitischer Spannungen

Nach unserer Ansicht stellt die Slowbalisierung kein vorübergehendes Phänomen dar; es dürfte sich vielmehr um eine fundamentale wirtschaftliche und politische Neuausrichtung handeln. Der Trend wurde von den jüngsten Krisen wie der Covid-Pandemie, dem Ukrainekrieg und dem Handelskonflikt zwischen den USA und China zusätzlich verstärkt. Diese Ereignisse haben die Anfälligkeit der globalen Lieferketten offengelegt und gezeigt, wie hoch der Stellenwert von strategischen Produkten und wesentlichen Alltagsgütern tatsächlich ist.

Ein Mann in Anzug und Krawatte lächelt freundlich in die Kamera
Chris Burger, Senior Equity Analyst LGT

Unternehmen und Staaten befassen sich nun mit der Neuorganisation ihrer bestehenden globalen Netzwerke. Bei der Neuausrichtung der Lieferketten geht es nicht nur um Kostenoptimierung, sondern auch zunehmend um die Bedeutung der Versorgungssicherheit. Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Automatisierung sollen sicherstellen, dass im eigenen Land oder im nahen Ausland belastbare Lieferketten geschaffen werden können. Der Preis für mehr Sicherheit ist ein Anstieg der Teuerung.

Gleichzeitig erkennen Regierungen weltweit die Notwendigkeit, strategische Industrien zu unterstützen und ihre Abhängigkeit von globalen Lieferketten zu verringern. So subventioniert die EU beispielsweise die Produktion im Inland mit Initiativen wie dem "Green Deal Industrial Plan", um ihre Souveränität in Technologiefragen sicherzustellen. 

Von der Verschiebung der globalen Wirtschaftsordnung profitieren

"America First"-Parolen stehen sinnbildlich für die protektionistische Neuausrichtung der Weltwirtschaft – ein Trend, der laut Chris Burger von LGT Private Banking die Slowbalisierung weiter vorantreibt. © Kevin Dietsch/UPI/laif

Diese Entwicklung signalisiert, dass geopolitische und nationale Sicherheitsüberlegungen ebenso wichtig sind wie wirtschaftliche Aspekte. Unternehmen in ganz verschiedenen Branchen wie Technologie, Automobilbau und Gesundheitswesen richten ihre Geschäftsmodelle neu aus, um sich diese kritische Verlagerung der globalen Wirtschaftsordnung zunutze zu machen.

Es trifft zwar zu, dass die "America First"-Politik von Präsident Trump die Slowbalisierung beflügelt; dabei sollte man jedoch nicht vergessen, dass dieser Trend schon seit einiger Zeit anhält. Protektionistische Massnahmen und der Rückzug der USA wie auch einiger anderer Länder aus internationalen Vereinbarungen lassen Wirtschaftsblöcke entstehen - die USA, die EU und China sind die grössten unter ihnen -, die zunehmend einen eigenen Kurs fahren.

Das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität

Der Trend zur Slowbalisierung führt zu einer Neugewichtung der globalen Netzwerke und der regionalen Autonomie. Die Frage, wie kostengünstig ein Produktionsstandort ist, spielt bei Entscheidungen nicht länger zwingend die grösste Rolle; vielmehr geben Sicherheits- und Stabilitätsbedürfnisse bei zahlreichen Lieferketten- und Produktionsentscheidungen den Ausschlag.

Mit dieser Neuausrichtung eröffnen sich Chancen für Unternehmen, von der Verlagerung ihrer Produktionsstandorte, der Stärkung lokaler Lieferketten und der Ausrichtung auf Unabhängigkeit im Technologiebereich zu profitieren. Betrachten wir einige Schlüsselbranchen im Einzelnen:

  • Rüstung und Cybersicherheit: Da kritische Rüstungstechnologien und -einrichtungen vor Importabhängigkeiten zu schützen sind, nehmen die Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie die lokale Produktion zu. Die Bedrohung durch Cyberangriffe wächst, der Stellenwert von Daten als strategischem Gut steigt. Daher werden auch Cybersicherheitslösungen immer relevanter, was Investitionen in lokale Infrastrukturen und Rechenzentren nach sich zieht.
  • Halbleiter: Diese Branche weist eine besonders ausgeprägte Abhängigkeit von globalen Lieferketten auf. Daher liegt das Hauptaugenmerk auf dem Ausbau lokaler Produktionsstandorte. Mit Rückverlagerungen ins eigene Land oder ins nahe Ausland (Near- und Reshoring) versuchen die Hersteller, die mit geopolitischen Spannungen verbundenen Risiken zu mindern und die Unabhängigkeit auf technologischem Gebiet zu fördern.
  • Künstliche Intelligenz (KI): Die Entwicklung und Nutzung von KI erfordert enorme Rechenleistung und Zugang zu hochwertigen Daten. Staaten und Unternehmen investieren in lokale und regionale Rechenzentren und Computerinfrastruktur, um die Nachfrage abzudecken und zugleich die Datenhoheit sicherzustellen.
  • Investitionsgüter, Automatisierung und Digitalisierung: Da sich moderne Fertigungstechnologien auf Automatisierung und Digitalisierung stützen, wird es möglich, die Produktion flexibler zu gestalten, die Produktqualität zu erhöhen und die Kosten zu senken. Die Hersteller von Industrierobotern und die Anbieter von digitalen Zwillingen verzeichnen eine steigende Nachfrage, seit sie die Produktion ins Heimatland zurückholen (Onshoring) und flexiblere, zunehmend automatisierte Fertigungsstrassen nutzen.
  • Infrastruktur: Die Modernisierung des Verkehrs, digitale Netzwerke und die Energieversorgung stehen im Fokus staatlicher Förderprogramme zugunsten der regionalen Wirtschaftsentwicklung. Auf diesen Gebieten tätige Unternehmen profitieren von einer stabilen Auftragslage und langfristigen Partnerschaften mit der öffentlichen Hand.
  • Energie und Rohstoffe: Die Volatilität der internationalen Energiemärkte und die Zunahme der Umweltschutzauflagen führen dazu, dass Vermögensanlagen in erneuerbare Energiequellen, grüne Technologien und den lokalen Rohstoffabbau heutzutage im Mittelpunkt des Interesses stehen. Unternehmen, die sich auf eine effiziente Ressourcennutzung und umweltfreundliche Produktionsverfahren konzentrieren, können sich als Vorreiter des Wandels positionieren.
  • Gesundheitswesen: Kürzere, regional organisierte Lieferketten ermöglichen eine raschere und zuverlässigere Versorgung mit medizinischen Produkten und Medikamenten. Investitionen in lokale Forschungseinrichtungen und Produktionsstandorte fördern auch die Innovation in den Bereichen Medizintechnologie und Arzneimittelentwicklung. Stärkere lokale Selbstversorgungsmöglichkeiten tragen in Krisenzeiten zur Vermeidung von Engpässen bei und erhöhen die Versorgungssicherheit.
  • Nahrungsmittel: Im Nahrungsmittelsektor führt die Konzentration auf den lokalen Anbau und die lokale Produktion zu kürzeren Transportwegen, mehr Frische und besserer Qualität sowie zu einem Rückgang der Umweltbelastung. Zahlreiche Konsumentinnen und Konsumenten bevorzugen regionale und nachhaltig angebaute bzw. hergestellte Nahrungsmittel. Das stärkt lokale Produzenten, gewährleistet die Versorgungssicherheit und unterstützt eine widerstandsfähigere Agrarwirtschaft.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Slowbalisierung zweifellos Branchen zugutekommt, die lokale Wertschöpfungsketten mit Innovation verbinden, sei es durch Automatisierung, ressourceneffiziente Produktion oder digitale Unabhängigkeit. Unternehmen, die diesen Wandel aktiv mitgestalten, fördern nicht nur ihre eigene Krisenresilienz, sondern langfristig auch eine regional vernetzte, nachhaltige Wirtschaft.

Marktinformationen unserer Expertinnen und Experten

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