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Market View & Insights
Experimentelle Forschungsmethoden haben dem Ökonomenpaar Abhijit Banerjee und Esther Duflo 2019 einen Wirtschaftsnobelpreis beschert. Noch wichtiger ist, dass die beiden unser Verständnis für die Armen der Welt verbessern - und Wege aufzeigen, wie wir ihnen effektiver helfen können.
"Die Armen [...] müssen raffinierte Ökonomen sein, um zu überleben."
Dieser Satz verrät viel über Abhijit Banerjee und Esther Duflo. Er stammt aus dem preisgekrönten Buch mit dem provokanten Titel "Poor Economics: Barefoot Hedge Fund Managers, DIY Doctors and the Surprising Truth about Life on Less than $1 a Day" ("Ökonomie der Armut: Barfuss-Hedgefonds-Manager, Do-it-yourself-Ärzte und die überraschende Wahrheit über das Leben mit weniger als einem Dollar am Tag"), das die beiden 2011 verfasst haben.
Beide sind Wirtschaftsprofessoren am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und haben ihr Berufsleben dem Kampf gegen Stereotype über Armut gewidmet.
"Arme Menschen sind nicht weniger rational als andere - im Gegenteil", behaupten sie. Statt Arme zu bemitleiden, sollten wir uns "die Zeit nehmen, ihr Leben in all seiner Komplexität und seinem Reichtum wirklich zu verstehen."
Gemeinsam mit dem Kollegen Michael Kremer erhielt das Ehepaar 2019 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Laut Nobelpreiskomitee haben ihre Methoden nicht nur viele Mythen über Armut und ihre Hartnäckigkeit entlarvt, sondern auch "unsere Fähigkeit, Armut in der Praxis zu bekämpfen, wesentlich verbessert."
Der Ansatz von Banerjee und Duflo besteht darin, die komplexe Herausforderung der Armut in kleine, überschaubare Fragen zu zerlegen, die im Alltag der Menschen relevant sind.
Zum Beispiel: Sollen Moskitonetze in Kenia verschenkt, subventioniert oder zum Marktpreis verkauft werden? Wie lässt sich sicherstellen, dass arme indonesische Haushalte die ganze Reismenge erhalten, die ihnen gemäss eines Regierungsprogramms zusteht?
Im Zentrum stehen dabei randomisierte kontrollierte Studien, kurz RCTs ("Randomized Controlled Trial"). Bei diesen bildet man zufällige Kontrollgruppen, um Verzerrungen wie "Placebo"-Effekte zu vermeiden. Dadurch lassen sich die Auswirkungen konkreter, politischer Massnahmen zuverlässiger bewerten.
RCTs wurden im 19. Jahrhundert entwickelt und in der Landwirtschaft, der Medizin sowie der Politikwissenschaft angewandt. Erst viel später entdeckte sie Kremer für die Entwicklungsökonomie und machte seinen Kollegen Banerjee Mitte der 1990er Jahre in Harvard darauf aufmerksam. Der indisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler erkannte dann schnell, dass sie "viele Möglichkeiten bieten, auf die man sonst nie kommen würde."
Mit Hilfe solcher Techniken haben die Forscher oft überraschend einfache Lösungen gefunden.
Ein Beispiel ist ein Feldversuch im indischen Rajasthan. Dort meldeten arme Mütter ihre Kinder einfach nicht für das Polio-Impfprogramm an - obwohl es kostenlos war. Erst als jede Familie einen Sack Linsen geschenkt erhielt, schnellten die Impfraten wundersam in die Höhe.
In einem anderen Experiment in Indien verbesserten sich die Lernergebnisse von mehr als fünf Millionen Kindern erheblich. Der Grund: Schulen begannen, Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen durch Lehrerassistentinnen und Lehrerassistenten zu unterstützen.
1961 in Mumbai geboren, erinnert sich Banerjee daran, wie seine radikal-feministische Mutter, eine Wirtschaftsprofessorin, ihn dazu drängte, "etwas Sinnvolles zu tun." Er trat schliesslich in ihre Fussstapfen, zumal schon sie Wirtschaftsprofessorin war. Duflo kam 1972 in Paris zur Welt. Auch sie erzählt, wie sehr die Arbeit ihrer Mutter sie beeinflusste. Diese arbeitete als Kinderärztin für eine NGO und kümmerte sich um kriegsgeschädigte Kinder.
Beide wählten schliesslich die Wirtschaftswissenschaften als Weg, um der Gesellschaft zu dienen.
Auch Duflo promovierte 1999 in Harvard. In ihrer Dissertation untersuchte sie, wie sich Bildung auf spätere Einkommen auswirkt - und zwar anhand eines gross angelegten Schulerweiterungsprojekts in Indonesien. Ihre Arbeit legte den Grundstein für die künftige Zusammenarbeit mit Banerjee.
Die Studie lieferte den ersten kausalen Nachweis, dass eine höhere Schulbildung langfristig das Einkommen verbessert - und "brachte mir einen grossen Teil meines Wissens über empirische Forschung bei", so Banerjee.
Seitdem haben die empirischen, evidenzbasierten Forschungsmethoden des Paares die Entwicklungsökonomie revolutioniert.
Im Jahr 2003 waren sie Mitbegründer des am MIT angesiedelten Poverty Action Lab, das heute als Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab (J-PAL) bekannt ist. Ihr Hauptziel: Sicherstellen, dass politische Massnahmen zur Armutsbekämpfung auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen.
J-PAL hat seinen Hauptsitz in Cambridge, Massachusetts, und unterhält Büros in sieben Ländern. Die Programme nutzen RCTs, um die Wirksamkeit politischer Massnahmen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft und anderen Branchen zu evaluieren und zu fördern. Sie haben weltweit mehr als 400 Millionen Menschen erreicht.
Sogar einige marktwirtschaftlich orientierte Kritiker der internationalen Entwicklungshilfe würdigen die Arbeit von J-PAL. Heute arbeitet Duflo als Abdul Latif Jameel Professorin für Armutsbekämpfung und Entwicklungsökonomie am MIT und - wie ihr Mann - als Direktorin des J-PAL. Sie hofft, dass der wachsende Bekanntheitsgrad der Organisation hilft, ihr Engagement auf Bereiche wie den Klimawandel auszuweiten.
2019 veröffentlichten sie "Good Economics for Hard Times" ("Gute Ökonomie für harte Zeiten") - ein Plädoyer für intelligente politische Massnahmen, die menschliche Bedürfnisse im Zeitalter des Sparwahns berücksichtigen. Vor kurzem hat Banerjee, ein leidenschaftlicher Koch, ein Buch nach seinem persönlichen Geschmack geschrieben: "Chhaunk: on Food, Economics and Society".
Der Titel leitet sich von einer Hindi-Kochtechnik ab. Dabei werden Gewürze in Öl frittiert und zum Schluss in ein Gericht eingerührt. Das Buch steckt voller vielfältiger Zutaten: Anekdoten, wirtschaftlichen Betrachtungen und Geschichten über Indien.
Es ist eine Mischung aus Kochbuch und Memoiren und reflektiert Banerjees Überzeugung, dass Wirtschaftswissenschaftler für uns relevanter werden können und sollten. So sagte er der Financial Times Ende letzten Jahres: "Um eine Welt zu schaffen, in der gute Ideen gewinnen, müssen wir sie verständlich vermitteln."