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Lifestyle

Das echte Venedig: Ruderboot statt Gondola

Wie bewältigt Venedig die Anforderungen des 21. Jahrhunderts? Eine Bootsfahrt mit der Regattaruderin Nena Almansi durch La Serenissima. 

Datum
Autor
Petra Reski
Lesezeit
15 Minuten

Nena Almansi und Autorin Petra Reski in Venedig auf dem Fluss
Die batea a coa di gambaro gehört zu Venedig wie kein anderes Boot. Schon Carpaccio und Canaletto hielten es als Teil des venezianischen Panoramas fest. © Federico Sutera

Die Venedig-Maschine läuft wieder auf Hochtouren – mit Vaporetti, Lastkähnen und unzähligen Wassertaxis, die die Kanäle durchpflügen. Die magischen Momente sind vorbei, als die Rennruderer den Canal Grande in Besitz genommen haben und gleichsam schwebend über das spiegelglatte Wasser geglitten sind. Vergessen ist die Zwangspause der Lockdowns, als sich das Leben hier anfühlte, als hätte jemand bei dem in Endlosschleife laufenden Venedig-Film auf die Stopptaste gedrückt. Jetzt herrscht auf dem Canal Grande wieder ein Verkehr wie nach Feierabend auf der A1 vor Zürich – ohne Rücksicht auf ein schmales Ruderboot, in dem sich eine junge Venezianerin gegen die Wellen stemmt. 

Elena Almansi, genannt Nena, ist 30 Jahre alt und rudert eine batea a coa di gambaro, die so heisst, weil das Heck an einen Krabbenschwanz erinnert. Die Wortbilder des Venezianischen entsteigen dem Meer. Liegt ein kleines Mädchen im Kinderwagen, rufen Venezianerinnen ein begeistertes Xe nata una sepoina! aus: Ein Tintenfischchen wurde geboren! Und wer geizig ist, hat wohl einen Krebs in der Tasche: Ti ga i granxi in scarsea?

Venezianisches Ruderboot
Ein traditionell venezianisches Ruderboot: Keine Gondola, sondern eine "batea a coa di gambaro". © Federico Sutera

Nena Almansis batea ist ein traditionell venezianisches Ruderboot, das man bereits auf Gemälden von Carpaccio aus dem 16. Jahrhundert sowie von Canaletto aus dem 18. Jahrhundert bewundern kann – und das im Kielwasser der Wassertaxis, zwischen den Schiffsschrauben der Vaporetti und den Bugwellen der Lastkähne, wie ein auf dem Wasser tanzender Affront wirkt. Jedenfalls scheinen die Bootsführer das so zu sehen: Dominant wie Hunde, die ihr Revier markieren wollen, preschen sie mit nur wenigen Zentimetern Abstand an Nenas batea vorbei – unter Missachtung der venezianischen Verkehrsregel, dass Ruderboote stets Vorfahrt haben, egal ob sie von rechts oder links kommen.

Nena Almansi ist eine der bekanntesten Rennruderinnen Venedigs. Und das nicht nur, weil sie etliche Regatten gewonnen hat. Sondern weil Rudern für sie weniger ein Sport als vielmehr eine Lebensart ist – im Einklang mit einer Stadt, die wie ein Gegenentwurf zu der uns bekannten Wirklichkeit wirkt: keine Strassen, sondern Kanäle. Keine Autos, sondern Boote. Kein Waschbeton, sondern istrischer Marmor. Eine Stadt, die sich der Vereinheitlichung der Welt entzieht, eine Stadt wie eine Provokation, die uns und unsere Sinne herausfordert. 

Nena Almansi steuert ruhig und verlässlich
Zwischen Häusern, unter Brücken, auf dem Wasser: Nena Almansi steuert die batea verlässlich und ruhig. © Federico Sutera


Als Schulen zu Hotels wurden

Nena Almansi kam praktisch mit dem Ruder in der Hand zur Welt: Ihre Eltern sind venezianische Rennruderer, ihr Vater hat sich das Jurastudium als Gondoliere verdient, ihre Mutter, die Künstlerin Anna Campagnari, hat so gut wie alle venezianischen Regatten gewonnen und sich darauf spezialisiert, Siegesstandarten für Regattaruderer zu entwerfen. Im Erdgeschoss von Nenas Elternhaus ziehen sich die Siegestrophäen ihres Vaters über eine ganze Wand: rot für den ersten Platz, weiss für den zweiten, grün für den dritten und blau für den vierten. Die Standarten ihrer Mutter hängen unter Glas – und sind durchweg rot. 

Die rudernde Nena Almansi in den Kanälen Venedigs.
Stadt, Wand, Fuss: Rudern ist für Elena Almansi weniger ein Sport als vielmehr eine Lebensart - in Einklang mit einer Stadt, die wie ein Gegenentwurf zu der uns bekannten Wirklichkeit wirkt. © Federico Sutera

Als Nena ein Jahr alt war, schlief sie im Vorschiff des Ruderboots ihrer Mutter, mit drei Jahren hielt sie erstmals ein Ruder in der Hand, mit sechs nahm sie erstmals an einer Regatta teil – und fuhr prompt gegen eine Mauer. Allerdings hielt sie das nicht davon ab, schon früh durch die Lagune zu rudern – rüber zur Isola di Campalto, einer kleinen Insel gegenüber vom Uferkai der Fondamente Nove, um dort Fussball zu spielen. 

Nena Almansi zählt zu den in der Stadt verbliebenen Venezianerinnen und Venezianern, die sich nicht geschlagen geben. Sie haben sich nicht dem Exodus ergeben, der dazu geführt hat, dass jedes Jahr tausend Bewohnerinnen und Bewohner die Stadt verlassen, weil sie das Mehr, Mehr, Mehr der touristischen Monokultur nicht mehr ertragen, die von den venezianischen Bürgermeistern seit dreissig Jahren wie eine Staatsreligion gepredigt wird. Der touristische Fundamentalismus hat Venedig seiner lebenswichtigen Funktionen beraubt: Krankenhäuser wurden geschlossen, Inseln verkauft und Schulen in Hotels verwandelt. Von Nenas 29 Klassenkameraden leben noch drei in Venedig, die anderen haben die Stadt verlassen. 

Kampf gegen Massentourismus


Nena hat nicht resigniert. Sie hat sich dem Credo des Massentourismus entgegengestellt – und das nicht erst heute, sondern bereits vor 15 Jahren, als sie noch als Schülerin zusammen mit ihrer australischen Freundin Jane Caporal «Row Venice» gründete, eine Non-Profit-Organisation, die allen Interessierten das Rudern auf venezianische Art beibringt: im Stehen. 

Im Kurs bei Nena lernen die Teilnehmenden nicht nur eine Bewegung (das Ruderblatt senkrecht eintauchen, rudern und waagerecht zurückholen), sondern auch, dass die Lagune keine Wasserstrasse, sondern ein schützenswertes Biotop ist – ein vom Menschen geschaffenes und nun von ihm in Gefahr gebrachtes Ökosystem. Wie viele engagierte Venezianerinnen und Venezianer fordert Nena dazu auf, die Lagune wie einen Organismus zu betrachten, der gepflegt, geheilt und genährt werden muss. Und nicht als Raum, den es zu unterwerfen, zu benutzen und zu verändern gilt – sodass mit Venedig noch mehr Profit erzielt werden kann. Bis zum Corona-Lockdown 2020 wurde Venedig von jährlich bis zu 33 Millionen Menschen besucht.   

Eine Stadt menschlichen Masses

Um ihre Ruderanfänger nicht gleich zu überfordern, starten Nenas Kurse im vergleichsweise ruhigen Rio della Madonna dell’Orto, einem breiten Kanal in Cannaregio. Wer nervös wird, wenn ein Motorboot um die Ecke biegt, den beruhigt Nena: Soll nicht dein Problem sein – um daran zu erinnern, dass Ruderboote in Venedig Vorfahrt haben. Es ist eines der letzten Privilegien in einer Stadt, die einst von Ruderbooten beherrscht wurde.

Nena Almansi und die Autorin Petra Reski
Das Wasser der Lagune in den Adern: Nena würde Venedig niemals verlassen. © Federico Sutera

Anfänger rudern vorne, wobei man ehrlich gesagt nichts falsch machen kann, ausser ins Wasser zu fallen. Die eigentliche Kunst besteht darin, das Boot am Heck stehend zu steuern, was Nena während ihrer Ruderkurse glücklicherweise übernimmt – und dabei erklärt, dass die Lagune ein Flachwasserareal ist, etwa 15 Kilometer breit und 50 Kilometer lang, eine Zone des Übergangs zwischen Meer und Land, mit Salzmarschen, Sandbänken, Kanälen und Untiefen. 

Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war die Lagune im Schnitt 40 Zentimeter flach, heute aber ist sie anderthalb bis zwei Meter tief: Von Flachwasser kann keine Rede mehr sein. Für das Flutsperrwerk wurde die Lagune ab dem Jahr 2001 noch weiter ausgebaggert – und wer mit Nena rudert, merkt nicht nur, wie stark der Wellengang ist, sondern versteht auch, dass die Lagune und die Mose-Schleuse für Venedig keine Lösung, sondern Teil des Problems ist: Jede Schliessung der Fluttore verhindert den Austausch der Lagune mit dem offenen Meer, während deren Öffnung aufgrund des Höhenunterschieds zwischen Meer und Lagune eine starke Strömung auslöst, die eine weitere Erosion des Lagunenbodens zur Folge hat.

Mit ihren zwanzig venezianischen Regattaruderinnen bildet Nena Almansi in Venedig die perfekte Symbiose zwischen Tradition und Innovation. Die junge Frau ist der missing link zwischen Canaletto und der Klimakrise: Sie macht deutlich, dass Venedig schon eine Stadt der Nachhaltigkeit war, als es das Wort noch gar nicht gab. Sie macht deutlich, dass Venedig der Gegenwart nicht hinterherhinkt, sondern ihr voranschreitet. Und in der Tatsache, dass es Venedigs Feinden bis heute nicht gelungen ist, die Stadt zu zerstören, sieht Nena den Beweis für Venedigs Widerstandskraft. Ihre Resilienz.

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