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Finanzmärkte

Wie der "Minsky-Moment" die Finanzkrise erklärt

Zu Hyman Minskys Lebzeiten fristeten seine unkonventionellen Ideen über Marktzyklen ein Nischendasein. Erst in der Finanzkrise von 2007 erlebten sie ihren spektakulären Durchbruch. Und angesichts wachsender globaler Schulden könnten sie noch an Bedeutung gewinnen.

  • von Wendy Cooper, Gastautorin
  • Datum
  • Lesezeit 4 Minuten

Hyman Minsky, Professor, Levy Economics Institute of Bard College
Der 1996 verstorbene US-Ökonom und Finanzmarkt-Theoretiker Prof. Hyman Minsky galt lange als eigenbrötlerischer Aussenseiter - bis seine Ideen ab 2007 plötzlich neue Relevanz gewannen. © Wikipedia/Pontificador

"Stabilität ist destabilisierend".

Das klingt wie ein Oxymoron, ein Paradoxon, eine Ironie. Aber genau so brachte der amerikanische Ökonom Hyman Philip Minsky seine wichtigste Erkenntnis auf den Punkt: Ausgerechnet Stabilität ist demnach der Hauptgrund für Finanzmarktkrisen.

Denn in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität werden Banken, Unternehmen und andere Wirtschaftsakteure selbstgefällig. Sie rechnen damit, dass der Aufschwung ewig anhält, und gehen in ihrem Profitstreben immer höhere Kreditrisiken ein. So bereitet die scheinbare Stabilität den Boden für die nächste Krise.

Für Minsky sind periodische Schwankungen zwischen Boom und "Bust" nicht die Ausnahme, sondern "ein grundlegendes Merkmal unserer Wirtschaft". Er hielt sie für so gut wie unvermeidlich - es sei denn, die Regierung greift kontrollierend ein.

Wichtig, aber im Widerspruch zum Mainstream

Minskys Arbeit wurde als wichtig genug erachtet, um ihm Lehraufträge an den Universitäten Brown und Berkeley sowie später eine Professur für Wirtschaftswissenschaften an der Washington University, St. Louis, zu verschaffen, bevor er 1990 in den Ruhestand ging. Bis zu seinem Tod anno 1996 blieb er "Distinguished Scholar" am Levy Institute des Bard College im Bundesstaat New York.

Doch in den liberalen 1970er und 1980er Jahren fanden Minskys Theorien über die Ursachen von Spekulationsblasen kein Gehör bei der Finanzelite. Sie zog es vor, Abwärtsphasen mit externen "Schocks" oder politischem Versagen zu erklären. 

Margaret Thatcher, former UK PM, and Ronald Reagan, former US President
Die Ära der Deregulierung - geprägt von Ronald Reagan und Margaret Thatcher - markierte eine Zeitenwende, in der Minskys Warnungen weitgehend ignoriert wurden. © Polaris/laif

Damals war die Wall Street geradezu besessen von der "Deregulierung" und die Vorstellung, dass staatliche Eingriffe sowohl notwendig als auch unvermeidlich sein könnten, wirkte anachronistisch. Dazu trug auch bei, dass Minsky die moderne mathematische Modellierung mied - und stattdessen den erzählerischen und verbalen Ansatz der alten Schule pflegte.

Als Minsky starb, attestierten einige kritische Stimmen seinen Ansichten über Marktexzesse doch noch eine gewisse Gültigkeit. Er habe die Rolle der Federal Reserve als "Kreditgeber der letzten Instanz" treffend dargestellt. Doch noch immer wurde er als eigenbrötlerischer Aussenseiter abgetan.

Der Minsky-Moment

Dann platzte 2007 die Blase der Subprime-Hypotheken. Sie löste die Finanzkrise aus, was wiederum zur schlimmsten globalen Rezession seit der Grossen Depression führte. Plötzlich sprachen alle von einem "Minsky-Moment".

Über Nacht erlebten längst vergriffene Bücher des Wirtschaftswissenschaftlers Minsky ein Comeback. Sie wechselten für Hunderte von Dollars die Hände. Der Nobelpreisträger Paul Krugman hielt einen viel beachteten Vortrag über die Finanzkrise mit dem Titel "The Night They Re-read Minsky" (Die Nacht, in der Minsky neu gelesen wurde). Und 2009 erklärte Janet Yellen, die damalige Präsidentin der Federal Reserve Bank of San Francisco, Minskys Werk zur "Pflichtlektüre".

Kurz: Der Begriff "Minsky-Moment" hat sich definitiv im ökonomischen Vokabular etabliert. Er gilt als Synonym für den überraschenden Zusammenbruch von Vermögenswerten nach einer langen Wachstumsphase - ausgelöst durch eine exzessive Verschuldung und Spekulationsdruck.

Ein "Baby mit roten Windeln"

Minsky kam 1919 in Chicago als Sohn jüdischer Sozialisten zur Welt - und bezeichnete sich selbst als "Baby mit roten Windeln": Seine Eltern hatten sich bei einer Gala zum hundertsten Geburtstag von Karl Marx kennengelernt.

Hyman Minsky, Professor, Levy Economics Institute of Bard College
Hyman Minsky, Keynesianer mit Schumpeter-Flair. © Levy Economics Institute of Bard College

Obwohl er seine Entscheidung, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, auf seine radikale Erziehung und Jugend zurückführte, waren die Vorbilder, die seine wirtschaftlichen Ideen prägten, gemässigter.

Er war ein Bewunderer - ja, sogar ein Biograf - von John Maynard Keynes, dessen Ruf nach staatlichen Interventionen in Krisenzeiten er übernahm. Zugleich meinte er, dass Keynes ein "Update" für das späte 20. Jahrhundert benötige. Darum wandte er sich Joseph Schumpeter zu, der den Begriff der "schöpferischen Zerstörung" geprägt hatte, um die kontinuierlichen Innovationswellen im modernen Kapitalismus zu beschreiben.

Minsky promovierte an der Harvard University in Wirtschaftswissenschaften. Und tatsächlich war Schumpeter sein erster Doktorvater. Zuvor hatte Minsky an der University of Chicago einen Abschluss in Mathematik gemacht und seinen US-Militärdienst im Berlin der Nachkriegszeit geleistet. Als Schumpeter 1950 starb, sprang der sowjetisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Wassily Leontief für ihn ein. Für seine Arbeiten über die Interdependenz der Wirtschaftssektoren heimste er 1973 den Wirtschaftsnobelpreis ein.

Die "Hypothese der finanziellen Instabilität"

Schumpeter, Keynes und überraschenderweise auch der Finanzbetrüger Charles Ponzi aus den 1920er-Jahren - bekannt als Namensgeber des zwielichtigen "Ponzi-Systems" - trugen dazu bei, dass Minsky sein Markenzeichen, die "Hypothese der finanziellen Instabilität", entwickelte.

Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Finanzen sind der Motor für Investitionen in kapitalistischen Volkswirtschaften. Im Lauf der Zeit bilden sich Finanzsysteme heraus, welche die Natur des Kapitalismus verändern. Minsky unterscheidet vier Phasen: 
    1. den kommerziellen, 
    2. den finanziellen, 
    3. den managergetriebenen und 
    4. den "Money-Manager"-Kapitalismus. 
    Dieses letzte Stadium zeichnet sich durch grosse institutionelle Anleger aus, wie wir sie heute kennen.
  • In der "Money-Manager"-Phase lassen sich wiederum drei Phasen der Kreditvergabe unterscheiden - von der relativ vorsichtigen Hedge-Phase über die risikoreichere spekulative Phase bis hin zur grenzenlosen Ponzi-Phase. In letzterer vergeben Banken auch Kredite an Unternehmen und Haushalte, die weder die Zinsen noch das Kapital zurückzahlen können.

Die gesamte Struktur hängt vom Glauben an stetig wachsende Vermögenswerte ab und basiert somit auf einem Schönwetterszenario. Sobald die Vermögenswerte sinken und Kreditnehmer sowie Kreditgeber realisieren, dass die Schulden im System niemals zurückgezahlt werden können, kommt es zu Panikverkäufen. Das beschleunigt den Preiszerfall - und der Minsky-Moment ist da.

Leben wir in einer Minsky-Ära?

Die grosse Rezession von 2007/08 mag der bisher grösste Minsky-Moment gewesen sein - aber bei weitem nicht der einzige. 

Volatile Märkte und wachsende Schulden - steht der nächste Minsky Moment in der Finanzmarktgeschichte bevor? © KEYSTONE/EPA/Justin Lane

So begann beispielsweise die asiatische Finanzkrise von 1997 mit dem Zusammenbruch des thailändischen Baht, bevor sie sich auf andere ostasiatische Volkswirtschaften ausbreitete. Die hohe Privatverschuldung wirkte dabei wie ein Brandbeschleuniger.

Auch der Crash des chinesischen Immobilienmarktes im Jahr 2021 wurde durch die steigende Verschuldung ausgelöst. Er verschärfte sich durch die Auswirkungen der Covid-Pandemie auf die überschuldeten Bilanzen und gipfelte im Konkurs des Immobilienkonzerns Evergrande.

Es ist sogar denkbar, dass wir uns aktuell wieder in einer Minsky-Ära befinden.

Da die weltweite Verschuldung ansteigt, verstärken sich jedenfalls die Voraussetzungen für einen weiteren Minsky-Moment. Es bleibt abzuwarten, ob sich seine Rezepte beim nächsten Kollaps durchsetzen werden: rasche Interventionen der Zentralbanken, um Liquidität bereitzustellen, staatliche Rettungsaktionen, um wichtige Finanzinstitute zu stabilisieren, sowie eine internationale Zusammenarbeit, um grenzüberschreitende Finanzkrisen zu bewältigen.

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