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Nachhaltigkeit

Moderne Architektur setzt auf nachhaltige Baustoffe

Holz, Lehm und andere natürliche Baumaterialien erleben gerade eine Renaissance. Zwar geht es noch nicht ganz ohne Beton, aber könnte dieser Baustoff nicht auch mit weniger Emissionen produziert werden?

Datum
Autor
Andrea Valentino, Gastautor
Natürliche Baustoffe im Detail (von links nach rechts: Stroh, Holz, Kork, Lehm, Bambus)
Natürliche Baustoffe im Detail (von links nach rechts: Stroh, Holz, Kork, Lehm, Bambus) © LGT

Wer nach Skellefteå reist, einem Ort inmitten der nordschwedischen Wald- und Seenlandschaft, kann ein Gebäude unmöglich übersehen: das Sara Kulturhus. Seine 20 Stockwerke überragen die Nadelbäume in der Stadt, die Fenster sind ins Licht der Wintersonne getaucht und die sandfarbene Fassade schimmert im Schnee.

Sara Cultural Centre in Skellefteå, Schweden
Sara Cultural Centre in Skellefteå, Schweden © Åke Eson Lindman

Dieses Gebäude, das Museum, Bibliothek, Theater und Hotel zugleich ist, besticht nicht nur durch sein attraktives Design, sondern auch durch das verwendete Material. Für das Sara Kulturhus wurde eine tief in der Region verwurzelte, traditionelle Bauweise zu neuem Leben erweckt: Es ist aus Holz gebaut, obwohl es sich rund 75 Meter über die Stadt erhebt.

Dabei ist dieses Wunderwerk in Skellefteå, rund 600 Kilometer von Stockholm, gar nicht einmal so einzigartig. Ganz im Gegenteil: Der dramatische Klimawandel und die ästhetische Kraft der natürlichen Umwelt bringen Dutzende, wenn nicht Hunderte Saras hervor, die aus verschiedensten Naturmaterialien wie etwa Strohballen und Kork bestehen.

Und doch dürfte die Architektur der Zukunft wohl nicht vollkommen "natürlich" sein. Holz kann zwar viel dazu beitragen, das Ausmass der Erderwärmung zu begrenzen, doch wird gerade ebenso intensiv erforscht, wie man Beton nachhaltiger produzieren könnte. Das ist auch gut so, denn für Ingenieurbauten aller Art ist dieser Baustoff unverzichtbar.

Umweltfreundliche Baustoffe

Die Menschen nutzen bereits seit langem die Schätze der Natur, um private und öffentliche Gebäude zu errichten. Schon zu Zeiten der römischen Republik riet etwa der Architekt Vitruvius seinen Lesern, keine im Frühjahr gefällten Bäume zu verwenden, weil sie sich aufgrund ihrer "lockeren Textur" nicht als Bauholz eigneten.

Skelleftea Sara Cultural Centre (Innenansicht)
Sara Cultural Centre in Skelleftea, Schweden © Åke Eson Lindman

Häuser aus Holz und Lehm prägten über Jahrtausende das Bauhandwerk des Westens und sind in entlegeneren Regionen der Welt auch heute noch verbreitet. In den letzten Jahrzehnten sind sie jedoch nahezu verschwunden. "Die Menschen begannen, mehr Zement zu verwenden", erklärt Rikki Nitzkin, Expertin für Strohballenbau und Mitglied im Europäischen Strohbau Netzwerk ESBA (European Straw Building Association). 

Sie vermutet, die verheerenden Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts könnten ihren Teil dazu beigetragen haben, dass diese alte Bauweise in Vergessenheit geriet.

Allerdings haben Stroh und verwandte Materialien in den letzten Jahren überall in Europa eine Art Wiedergeburt erlebt. Das zeigen diese Zahlen: Nach einer Schätzung aus dem Jahr 2019 gab es in Frankreich rund 5000 Gebäude mit Wänden aus Strohballen und jedes Jahr kommen weitere 500 hinzu.

Strohballenhaus in Girona, Spanien von Rikki Nitzkin
Strohballenhaus in Girona, Spanien von Rikki Nitzkin © Eva Costa Cicar

Der Holzbau verzeichnet eine ähnliche Renaissance. Dank eines von der EU geförderten Projekts entwickeln so unterschiedliche Städte wie Trento (Italien) und Brasov (Rumänien) ihre eigenen Holzbauprogramme.

Für Jessica Becker von Wood City Sweden liegen die Gründe für diesen Aufwärtstrend auf der Hand. "Holz ist ein erneuerbarer, nachwachsender Rohstoff", sagt sie, die im ganzen Land für die Holzbauweise wirbt. Ein gutes Argument, denn in Schweden wachsen heute doppelt so viele Bäume wie vor hundert Jahren.

Die Idee, mit Stroh zu bauen, ist eine Sache der Intuition.

Rikki Nitzkin, Bauherrin

Hinzu kommt der "doppelte Effekt" der Kohlenstoffreduktion. Auch hier sprechen die Zahlen für sich: Nach einer Studie von 2021 speichert jeder Kubikmeter Holz rund eine Tonne CO2, und der Strohballenbau liefert ähnliche Ergebnisse. Gleiches gilt für den Lehmwellerbau – der nur mit Stroh, Lehm und Wasser auskommt – oder die Baustoffe Kork und Bambus.

Rikki Nitzkin und ihr Team beim Bau eines Strohballenhauses in Huesca, Spanien
Rikki Nitzkin (Mitte) und ihr Team beim Bau eines Strohballenhauses in Huesca, Spanien © Marrit Sielias

Dagegen wird durch die chemische Reaktion, bei der eine Tonne herkömmlichen Zements entsteht, etwa eine halbe Tonne CO2 in die Atmosphäre abgegeben.

Umweltästhetik im nachhaltigen Design

Wer Rikki Nitzkin zuhört, wenn sie leidenschaftlich für den Baustoff Stroh plädiert, wird schnell von ihrer Begeisterung angesteckt. Oder, wie sie sagt: "Es macht einfach 'Klick'. Die Idee, mit Stroh zu bauen, ist total faszinierend. Ich weiss nicht, wie ich das erklären soll – das ist eine Sache der Intuition."

Das Maya Boutique Hotel des Architekten Werner Schmidt in Strohbauweise
Das Maya Boutique Hotel des Architekten Werner Schmidt in Strohbauweise © atelierschmid.ch

Die grössten Stärken von Stroh, Strohlehm und anderen Naturmaterialien sind − jenseits ihres Nutzens für die Umwelt − vielleicht ihre Ästhetik und die Möglichkeit, etwas Neues und Elegantes aus einem natürlichen Rohstoff zu erschaffen.

Das Sara Kulturhus ist erst der Anfang. Betrachten wir zum Beispiel das Boutique-Hotel Maya: In den Bergen oberhalb von Zermatt hat der Architekt Werner Schmidt ein Wunderwerk aus Stroh geschaffen – ein Gebäude mit der soliden Anmutung eines Chalets aus Stein, das aber letztlich aus Viehfutter besteht.

Lehmhaus in East Devon, Grossbritannien
Lehmhaus in East Devon, Grossbritannien © Kevin McCabe

Andere Konstruktionen aus Naturbaustoffen fügen sich ebenso elegant in die Umgebung ein. In Portugal scheint sich das Korkhaus ganz im umliegenden Olivenhain zu verlieren. In den Hügeln von Devonshire hat sich jemand ein Strohlehmhaus gebaut, das so aussieht, als sei es fix und fertig in die Landschaft aus Ginsterbüschen und Schafweiden gezaubert worden.

Allerdings kann nicht jeder Amateur einfach loslegen, indem er Bäume fällt oder Lehm anrührt. Da die Strohbauweise im letzten Jahrhundert quasi in Vergessenheit geriet, steht vor dem Erfolg die Schulung – vor allem, wenn natürliche Baustoffe eingesetzt werden sollen. So betont beispielsweise Rikki Nitzkin, die heute ihre Fachkenntnisse an andere Menschen weitergibt, dass man beim Strohballenbau nur gut gepresste Ballen verwenden sollte, da loses Stroh zur Schimmelbildung neigt.

Mehr Nachhaltigkeit in der zeitgenössischen Architektur

Abgesehen von diesen praktischen Schwierigkeiten gestehen selbst Naturstoffbegeisterte ein, dass von Menschen gemachter Stahl und Beton niemals ganz verschwinden wird. Auch Jessica Becker sagt: "Beton wird nach wie vor für den Infrastrukturbau und andere Gebäude gebraucht."

Jason Ideker stimmt ihr zu. Der Betonexperte und Professor an der Oregon State University betont, dass Infrastrukturen – von Abwasserkanälen bis zum Strassenbelag – aus langlebigen, wasserresistenten Baustoffen bestehen müssen; Holz oder Kork sind hierfür einfach ungeeignet.

Die Forschung arbeitet daran, den CO2-Fussabdruck von Beton zu verringern

Jason Ideker, Professor an der Oregon State University

Glücklicherweise sind auch hier Fortschritte zu verzeichnen. Ideker beschreibt, welche Anstrengungen die Forschung schon unternommen hat, um den CO2-Fussabdruck von Beton zu verringern, auch wenn Beton nicht so nachhaltig wie Strohlehm werden dürfte. Der zentrale Faktor ist hier Kalkstein, ein wichtiges Zusatzmittel für Portlandzement. Bei der traditionellen Herstellung dieser weltweit sehr beliebten Zementsorte wird der Mischung vor dem Brand Kalkstein hinzufügt, was die CO2-Emissionen spürbar in die Höhe treibt.

Alternativ, so Ideker, könnte man auch gemahlenen Kalkstein nach dem Brennen hinzufügen. Durch den gleichzeitigen Einsatz anderer Zusatzstoffe wie etwa kalziniertem Lehm entsteht ein Produkt, das rund ein Zehntel weniger Emissionen erzeugt.

Das in Europa bereits übliche Verfahren wird laut Jason Ideker jetzt immer öfter von Bauunternehmen in den USA übernommen, denn der gemahlene Kalkstein ist nicht nur preiswert, sondern auch "so gut wie überall auf der Welt"verfügbar.

Beton ist vielleicht nicht so sexy oder attraktiv wie Strohlehm oder schwedische Nadelbäume. Aber selbst dieser Baustoff kann von den Schätzen der Natur profitieren und wie das Hochhaus in Skellefteå zeigen, was alles möglich ist, wenn man nur will.

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