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Unternehmertum

Der Weg in den Cortex: Die vielversprechende Zukunft der Gehirn-Computer-Schnittstellen

Neue Technologien, die eine Verbindung zum menschlichen Gehirn herstellen, könnten Millionen von Patienten mit schweren Behinderungen neue Hoffnung geben und einer wachsenden alternden Bevölkerung helfen.

Datum
Autor
Steffan Heuer, Gastautor
Lesezeit
5 Minuten
Querschnittsgelähmter Patient, Mitte, geht zwischen Gregoire Courtine, rechts, und Jocelyne Bloch, links
© KEYSTONE/Valentin Flauraud

Es war ein Video, das im Mai weltweit für Schlagzeilen sorgte: Der 40-jährige Niederländer Gert-Jan Oskam, der vor zwölf Jahren bei einem Fahrradunfall gelähmt wurde, konnte seine Gedanken in die Tat umsetzen und tatsächlich aufstehen und sich langsam fortbewegen. "Ich fühle mich wie ein Kleinkind, das wieder laufen lernt", sagte Oskam der BBC. Das Geheimnis hinter seinem plötzlichen Mobilitätsgewinn ist ein Gehirnimplantat in Kombination mit einem Rückenmark-Stimulator des Start-ups Onward Medical, einer Ausgründung der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL).

Der querschnittsgelähmte niederländische Patient Gert-Jan geht mit Hilfe eines Gehirnimplantats an einem Rollator.
Der querschnittsgelähmte niederländische Patient Gert-Jan, Mitte, geht dank eines Brain Computer Interface (BCI), das gedankengesteuertes Gehen nach einer Rückenmarksverletzung ermöglicht, mit einem Rollator. © KEYSTONE/Jean-Christophe Bott

Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI): ein entscheidender Schritt nach vorn
Dies war jedoch nicht der einzige Meilenstein bei den Bemühungen, Patienten zu helfen, die an schweren Behinderungen in Folge von Rückenmarksverletzungen, Schlaganfall und amyotropher Lateralsklerose (kurz ALS) leiden. An Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer Interfaces, BCIs) wird seit Jahrzehnten geforscht, doch das Jahr 2023 brachte erhebliche Bewegung in die Disziplin.

In New York wurde einem Tetraplegiker erfolgreich ein doppelter neuronaler Bypass eingesetzt, der sein Gehirn, sein Rückenmark und seinen Körper miteinander verbindet, sodass der Patient seine Arme wieder heben konnte und seinen Tastsinn wiedererlangte. In Schweden berichteten Wissenschaftler, dass sie für eine 50-jährige Frau, die ihre Hand verloren hatte, eine bionische Hand entwickelten. Sie ist elektronisch mit ihrem Gehirn verbunden und erlaubt es ihr, Gegenstände zu bewegen. Und in Australien wurde vier Männern, die infolge von ALS an starken Bewegungseinschränkungenlitten, ein Hirnimplantat eingesetzt, das Signale von der motorischen Hirnrinde aufnimmt und übersetzt und sie so mit der Aussenwelt kommunizieren lässt.

Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI) eröffnen neue Wege

Ein Hand mit Elektroden liefert Erkenntnis über die natürlichen Bewegungsmuster der menschlichen Hand.
Eine computergesteuerte Hand ermöglicht Bewegungen. © KEYSTONE/Christian Beutler

Forscher mögen unterschiedliche Ansätze für invasive Implantate verfolgen, doch sie sind sich einig, dass sich vormals aufs Labor beschränkte Technologien den Weg in die breitere Bevölkerung bahnen. BCIs eröffnen nicht nur neue Wege, schwer behinderten Patienten Bewegung und Sprache zurückzugeben. Sie können möglicherweise auch das Leben der allgemeinen, rasch alternden Bevölkerung verbessern, die mit Beschwerden wie unsicherem Gang, Zittern und Parkinson oder Depressionen zu kämpfen hat.

"Wir haben die letzten 30 Jahre darauf verwendet herauszufinden, wie das Gehirn als Kontrollzentrum des Körpers funktioniert, sei es sensorisch, motorisch, gedanklich oder emotional", sagt Kurt Haggstrom, Chief Commercial Officer beim BCI-Startup Synchron in Brooklyn. Es sei an der Zeit, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Neuroprothesen zu übertragen - also in Hard- und Software, die Menschen mehr Unabhängigkeit und Autonomie verleiht. "Das liegt nicht 10, 20 oder 30 Jahre in der Zukunft. Es passiert schon heute, auch wenn wir mit einer kleinen Anzahl von Patienten anfangen", sagt Haggstrom.

Das 2012 gegründete Unternehmen Synchron steht hinter der klinischen Studie in Australien und wird sein Implantat an sechs weiteren Patienten in den USA testen. Das Unternehmen sticht aus dem zunehmend dichten Feld aus zwei Gründen heraus. Zum einen hat es von der US-Gesundheitsbehörde FDA die Genehmigung erhalten, klinische Studien am Menschen zu beginnen, und ausserdem gehören die Tech-Milliardäre Jeff Bezos und Bill Gates zu seinen Investoren, was das Unternehmen gegenüber dem Konkurrenten Neuralink aufwertet, hinter dem Elon Musk steht.

Farbige 3D-Magnetresonanztomographie (MRI) eines gesunden menschlichen Gehirns.
Farbige 3D-Magnetresonanztomographie (MRI) eines gesunden menschlichen Gehirns. © KEYSTONE/Science Photo Library/K H Fung

Koordinierte Brain-Computer-Interface-Forschung in Europa

Wissenschaftler definieren Gehirn-Computer-Schnittstellen als Technologie, die die Aktivität des zentralen Nervensystems (ZNS) misst und in einen künstlichen Output umwandelt. Das Projekt "Brain/Neural Computer Interaction Horizon 2020" der Europäischen Kommission, das der Koordinierung der BCI-Forschung dienen soll, definiert sechs Anwendungsbereiche: Ersatz, Wiederherstellung, Ergänzung oder Verbesserung der natürlichen ZNS-Funktion sowie weiterführende Forschung.

Die Vorgehensweisen, um Patienten wieder gehen oder sprechen zu lassen, sind unterschiedlich und erfordern nicht immer, den Schädel operativ zu öffnen. Eine Vielzahl von Unternehmen arbeiten an neuen Methoden - von der Tiefenhirnstimulation bis zur weniger aggressiven transkraniellen Stimulation von aussen.

Tiefenhirnstimulation
Klar ist jedoch: Je tiefer man in das Gehirn eindringt, desto grösser ist das Risiko und desto ungewisser das Ergebnis. Elon Musks Neuralink beispielsweise hat bisher nur damit experimentiert, Elektroden in die Gehirne von Primaten einzupflanzen, und plant für das kommende Jahr erste Versuche an Menschen, bei denen auch ein chirurgischer Roboter verwendet werden soll. Für die ersten Tierversuche hat das Unternehmen erhebliche Kritik geerntet.

Konkurrent Synchron hat eine weniger invasive Methode entwickelt, die ähnlich einem kardiovaskulären Stent funktioniert. Chirurgen platzieren mit einem Katheter eine sogenannte Stentrode unter dem Motorcortex des Gehirns. Sie sammelt Signale und sendet sie an ein Gerät, das unter der Haut des Patienten im Brustkorb sitzt und über Bluetooth mit externen Geräten kommuniziert. Die Operation dauert nur wenige Stunden, und die Patienten können noch am selben Tag nach Hause gehen. 

Eine Hand hält ein Gehirnimplantat (eine Art Platine). Mit diesem können Tetraplegiker einen Roboterarm steuern.
Mit einem derartigen Gehirnimplantat können Tetraplegiker einen Roboterarm steuern. © KEYSTONE/Science Photo Library/Dung Vo Trung

Reaktivierung schlafender Neuronen

Die Schweizer Forscher der NeuroRestore-Gruppe der EPFL unter Leitung der Neurowissenschaftler Grégoire Courtine und Jocelyne Bloch konzentrieren sich auf die Wiederbelebung von Rückenmarkskanälen, wobei sie sowohl einen Rückenmark-Stimulator als auch eine Schnittstelle zwischen Gehirn und Rückenmark verwenden. Letztere zeichnet motorische Absichten im Gehirn auf und entschlüsselt oder übersetzt sie in Rückenmarkssignale, die die gewünschte Bewegung veranlassen. Als Mitbegründer von Onward Medical haben die beiden Forscher den wissenschaftlichen Grundstein für Gert-Jan Oskams zaghafte erste Schritte gelegt. "Unser Implantat wurde von einem Neurochirurgen entwickelt und ist daher sehr praktisch, robust und einfach zu platzieren", erklärt Bloch.

Röntgenbild eines weiblichen Kopfes mit Mikrochip-Implantat
Röntgenbild eines weiblichen Kopfes mit Mikrochip-Implantat © Shutterstock/peterschreiber.media

NeuroRestore prüft derzeit die Anwendung der BCI-Technologie für andere Erkrankungen wie Schlaganfall und Parkinson, sagt Co-Direktor Courtine. Im November wurde berichtet, dass ein 63-jähriger Parkinson-Patient mit schwerer Gehbehinderung nach der Behandlung mit einem experimentellen Wirbelsäulenimplantat 6 km weit gehen konnte. Aber Courtine dämpft die Erwartungen: "Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Wir befinden uns in der Phase der klinischen Studien. Ein kommerzielles Gerät wird nicht vor Ende des Jahrzehnts auf den Markt kommen."

Zwei Hände halten ein Silikonmodell des menschlichen Gehirns und zeigen zwei elektronische Implantate.
Zwei Hände halten ein Silikonmodel des menschlichen Gehirns und zeigen zwei elektronische Implantate. Die Implementierung dieser ermöglicht gedankengesteuertes Gehen nach einer Rückenmarksverletzung mit Brain Computer Interface (BCI). © KEYSTONE/Jean-Christophe Bott

Das Verständnis der neurologischen Funktionen hat sich dramatisch verbessert
Dennoch beobachten Mediziner die Entwicklung mit vorsichtigem Optimismus. "Unser Verständnis der neurologischen Funktionen hat sich im Laufe der Jahre dramatisch verbessert, ebenso wie die Software und Hardware. Keine dieser Strategien heilt den Krankheitszustand, aber sie lindern die Symptome, indem sie die neurologischen Funktionen teilweise wiederherstellen, was die Lebensqualität verbessert", sagt Prof. Dr. Norbert Weidner, ärztlicher Direktor des Querschnittzentrums am Universitätsklinikum Heidelberg.

Er gibt zu bedenken, dass jedes Implantat im Gehirn oder im Rückenmark wahrscheinlich zu Fremdkörperreaktionen führt, die die langfristige Stabilität und Funktion der Geräte einschränken. Ganz zu schweigen von den psychologischen Auswirkungen auf die Patienten, die plötzlich längst verloren geglaubte Fähigkeiten wiedererlangen und mit der Aussicht leben müssen, dass sie diese wieder verlieren könnten, wenn das System nicht richtig funktionieren sollte.

Trotz der vielen Unwägbarkeiten prognostizieren Marktforscher eine Milliardenchance für BCI-Systeme. Precedence Research veranschlagt den Wert des BCI-Marktes auf USD 2,35 Milliarden im Jahr 2023 und erwartet, dass er sich bis 2032 etwa vervierfachen wird, auf USD 9,44 Milliarden Die Marktforscher sehen die wachsende Zahl geriatrischer Patienten dabei als wichtigen Wachstumstreiber.

Neben medizinischen Herausforderungen wirft die Aufzeichnung und Übersetzung menschlicher Hirnaktivität auch ungeklärte Fragen hinsichtlich des Datenschutzes auf. Die UNESCO etwa warnte im Juli, dass die raschen Fortschritte bei Gehirnimplantaten und -scans in Verbindung mit künstlicher Intelligenz eine Bedrohung für die "geistige Privatsphäre" darstellen.

Gabriela Ramos, stellvertretende Generaldirektorin für Sozial- und Humanwissenschaften, warnte, dass "wir uns auf dem Weg in eine Welt befinden, in der Algorithmen es uns ermöglichen werden, die mentalen Prozesse von Menschen zu entschlüsseln und die Gehirnmechanismen direkt zu manipulieren, die ihren Absichten, Emotionen und Entscheidungen zugrunde liegen.”

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