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Der letzte Weckruf für Europa?

Europa ist nicht ausreichend auf eine Verschärfung der Erderwärmung vorbereitet. Zu diesem Schluss kommt die europäische Umweltagentur (EUA) in ihrem ersten Klimarisikobericht. Klimaextreme haben auch in Europa bereits deutlich zugenommen, was sich in den vergangenen Jahren durch stärkere Hitzewellen, Dürren aber auch Überschwemmungen gezeigt hat. Dies dürfte sich in den kommenden Jahren bei zunehmender Erderwärmung weiter fortsetzen. Vor allem der Süden Europas wird hierbei anfangs deutlich stärker betroffen sein als andere Regionen. 

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Autor
Cedric Baur, Equity Analyst, LGT Private Banking
Lesezeit
10 Minuten
The Strategist Europe's wake up call
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Insgesamt identifiziert der Bericht 36 zentrale Klimarisiken in den Bereichen Ökosysteme, Ernährung, Gesundheit, Infrastruktur und Wirtschaft/Finanzen. Bei 16 Risiken sind demnach zusätzliche Anstrengungen erforderlich, acht bedürfen sogar sofortiger und dringender Gegenmassnahmen. Dazu gehören unter anderem Risiken für Küsten- und Meeresökosysteme, Biodiversität, Saatgutproduktion, Hitzestress, Waldbrände, Überschwemmungen und finanzielle Solidaritätsmechanismen. 

Obwohl das Verständnis für die globale Erwärmung und die Vorbereitung auf potenzielle Risiken auf politischer Ebene grundsätzlich vorhanden ist, ist die Vorsorge bei weitem nicht ausreichend. Massnahmen zur Anpassung werden bislang nur unzureichend umgesetzt. 

Europa erwärmt sich stärker als der globale Durchschnitt

2023 war das wärmste jemals gemessene Jahr und lag mit +1.48 °C über dem vorindustriellen Niveau (1850-1900) bereits sehr nahe am Ziel von +1.5 °C, das die Weltgemeinschaft im Pariser Abkommen von 2015 beschlossen hat. Vor allem deutlich wärmere Ozeantemperaturen haben zu den ungewöhnlich warmen Lufttemperaturen beigetragen. Auch der Winter 23/24 war wieder aussergewöhnlich warm. Generell erwärmen sich die verschiedenen Regionen der Erde unterschiedlich schnell, Europa liegt jedoch an der Spitze. Bleiben die Treibhausgasemissionen auf hohem Niveau, könnte sich der europäische Kontinent bis 2050 um +3 °C erwärmen, die Erde insgesamt jedoch "lediglich" um +1.5 °C. Bis Ende des Jahrhunderts wären in Europa dann sogar +7 °C möglich, sofern die Treibhausgasemissionen nicht deutlich reduziert werden. 

Mit der Zunahme von Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen steigen die Risiken für Ernährungssicherheit und Trinkwasserversorgung. Auch die Energieinfrastruktur dürfte negativ beeinträchtigt werden, da Stromausfälle wahrscheinlicher werden. Hinzu kommen Risiken für die menschliche Gesundheit - die Zahl der vorzeitigen Todesfälle durch extreme Hitze lag im Rekordsommer 2022 bei etwa 60’000 bis 70’000. Auch Tropenkrankheiten dürften mit steigenden Temperaturen in europäischen Breiten wahrscheinlicher werden. Hinzu kommt der Verlust von Artenvielfalt in empfindlichen Ökosystemen im Meer und an Land. Generell können klimatische Veränderungen Kaskaden von Prozessen auslösen und potenzielle Risiken um ein Vielfaches verstärken.

Die wirtschaftliche Entwicklung wird davon nicht unberührt bleiben, gehen doch die obigen Risiken in Zukunft sehr wahrscheinlich mit steigenden Schadenskosten und Mehrausgaben einher. Einerseits durch direkte Katastrophenhilfe und Wiederaufbaumassnahmen, andererseits in der Folge durch Abfederungen für sozial schwächere Teile der Bevölkerung. Zunehmende Extremwetterereignisse dürften sich im Schnitt ebenfalls negativ auf Umsatz und Produktivität der Unternehmen auswirken. Je nach Region kann auch der Kapitalstock substanziellen Schaden davontragen, was das Wirtschaftswachstum nachhaltig beeinträchtigen könnte. Unternehmen müssen zudem nicht einmal direkt betroffen sein. Risiken können sich auch indirekt, zum Beispiel über Zulieferer, materialisieren. 

Mehr Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen sind wichtig

Europa muss daher weiter an der Reduktion seiner Emissionen arbeiten, aber auch das Risikomanagement für längerfristige Anpassungen und Resilienz gegenüber der globalen Erwärmung rechtzeitig und deutlich umfassender als bisher angehen. Eine umfassende Koordination zwischen den Mitgliedsländern einschliesslich kluger Förderprogramme ist dabei entscheidend. Auch die soziale Verträglichkeit darf nicht aus den Augen verloren werden und Ungleichheiten bei den Gegenmassnahmen sollten vermieden werden. Darüber hinaus gilt es, sich auch international für umfassende Emissionsreduktionen einzusetzen, da nur gemeinsam mit grossen Emittenten wie China, den USA oder Indien globale Dekarbonisierungsziele erreicht werden können. Die jährlich stattfindenden Klimakonferenzen bieten hierfür eine mögliche Gelegenheit.

Ein deutlicher und beschleunigter Ausbau der erneuerbaren Energien wäre beispielsweise ein Hebel, um die eigenen Emissionen zu reduzieren und die zukünftige Energiesicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig muss das Energienetz ausgebaut und widerstandsfähiger gegen zunehmende Klimarisiken gemacht werden. Auch Energiespeicher werden wichtig, um Überkapazitäten abzufedern und Schwankungen bei erneuerbaren Energiequellen im Netz ausgleichen zu können. Davon dürften langfristig Unternehmen profitieren, die mit ihren Produkten und Dienstleistungen entsprechende Massnahmen für mehr Klimaschutz ermöglichen und für die Transformation von zentraler Bedeutung sind.

Es ist also entscheidend, bereits heute die notwendigen Schritte einzuleiten und sich zu fragen, in welche Richtung man in Zukunft steuern möchte, sonst droht der "letzte Weckruf der Wissenschaft" ungehört zu verhallen. 

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