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Market View & Insights
Zu Hyman Minskys Lebzeiten fristeten seine unkonventionellen Ideen über Marktzyklen ein Nischendasein. Erst in der Finanzkrise von 2007 erlebten sie ihren spektakulären Durchbruch. Und angesichts wachsender globaler Schulden könnten sie noch an Bedeutung gewinnen.
"Stabilität ist destabilisierend".
Das klingt wie ein Oxymoron, ein Paradoxon, eine Ironie. Aber genau so brachte der amerikanische Ökonom Hyman Philip Minsky seine wichtigste Erkenntnis auf den Punkt: Ausgerechnet Stabilität ist demnach der Hauptgrund für Finanzmarktkrisen.
Denn in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität werden Banken, Unternehmen und andere Wirtschaftsakteure selbstgefällig. Sie rechnen damit, dass der Aufschwung ewig anhält, und gehen in ihrem Profitstreben immer höhere Kreditrisiken ein. So bereitet die scheinbare Stabilität den Boden für die nächste Krise.
Für Minsky sind periodische Schwankungen zwischen Boom und "Bust" nicht die Ausnahme, sondern "ein grundlegendes Merkmal unserer Wirtschaft". Er hielt sie für so gut wie unvermeidlich - es sei denn, die Regierung greift kontrollierend ein.
Minskys Arbeit wurde als wichtig genug erachtet, um ihm Lehraufträge an den Universitäten Brown und Berkeley sowie später eine Professur für Wirtschaftswissenschaften an der Washington University, St. Louis, zu verschaffen, bevor er 1990 in den Ruhestand ging. Bis zu seinem Tod anno 1996 blieb er "Distinguished Scholar" am Levy Institute des Bard College im Bundesstaat New York.
Doch in den liberalen 1970er und 1980er Jahren fanden Minskys Theorien über die Ursachen von Spekulationsblasen kein Gehör bei der Finanzelite. Sie zog es vor, Abwärtsphasen mit externen "Schocks" oder politischem Versagen zu erklären.
Damals war die Wall Street geradezu besessen von der "Deregulierung" und die Vorstellung, dass staatliche Eingriffe sowohl notwendig als auch unvermeidlich sein könnten, wirkte anachronistisch. Dazu trug auch bei, dass Minsky die moderne mathematische Modellierung mied - und stattdessen den erzählerischen und verbalen Ansatz der alten Schule pflegte.
Als Minsky starb, attestierten einige kritische Stimmen seinen Ansichten über Marktexzesse doch noch eine gewisse Gültigkeit. Er habe die Rolle der Federal Reserve als "Kreditgeber der letzten Instanz" treffend dargestellt. Doch noch immer wurde er als eigenbrötlerischer Aussenseiter abgetan.
Dann platzte 2007 die Blase der Subprime-Hypotheken. Sie löste die Finanzkrise aus, was wiederum zur schlimmsten globalen Rezession seit der Grossen Depression führte. Plötzlich sprachen alle von einem "Minsky-Moment".
Über Nacht erlebten längst vergriffene Bücher des Wirtschaftswissenschaftlers Minsky ein Comeback. Sie wechselten für Hunderte von Dollars die Hände. Der Nobelpreisträger Paul Krugman hielt einen viel beachteten Vortrag über die Finanzkrise mit dem Titel "The Night They Re-read Minsky" (Die Nacht, in der Minsky neu gelesen wurde). Und 2009 erklärte Janet Yellen, die damalige Präsidentin der Federal Reserve Bank of San Francisco, Minskys Werk zur "Pflichtlektüre".
Kurz: Der Begriff "Minsky-Moment" hat sich definitiv im ökonomischen Vokabular etabliert. Er gilt als Synonym für den überraschenden Zusammenbruch von Vermögenswerten nach einer langen Wachstumsphase - ausgelöst durch eine exzessive Verschuldung und Spekulationsdruck.
Minsky kam 1919 in Chicago als Sohn jüdischer Sozialisten zur Welt - und bezeichnete sich selbst als "Baby mit roten Windeln": Seine Eltern hatten sich bei einer Gala zum hundertsten Geburtstag von Karl Marx kennengelernt.
Obwohl er seine Entscheidung, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, auf seine radikale Erziehung und Jugend zurückführte, waren die Vorbilder, die seine wirtschaftlichen Ideen prägten, gemässigter.
Er war ein Bewunderer - ja, sogar ein Biograf - von John Maynard Keynes, dessen Ruf nach staatlichen Interventionen in Krisenzeiten er übernahm. Zugleich meinte er, dass Keynes ein "Update" für das späte 20. Jahrhundert benötige. Darum wandte er sich Joseph Schumpeter zu, der den Begriff der "schöpferischen Zerstörung" geprägt hatte, um die kontinuierlichen Innovationswellen im modernen Kapitalismus zu beschreiben.
Minsky promovierte an der Harvard University in Wirtschaftswissenschaften. Und tatsächlich war Schumpeter sein erster Doktorvater. Zuvor hatte Minsky an der University of Chicago einen Abschluss in Mathematik gemacht und seinen US-Militärdienst im Berlin der Nachkriegszeit geleistet. Als Schumpeter 1950 starb, sprang der sowjetisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Wassily Leontief für ihn ein. Für seine Arbeiten über die Interdependenz der Wirtschaftssektoren heimste er 1973 den Wirtschaftsnobelpreis ein.
Schumpeter, Keynes und überraschenderweise auch der Finanzbetrüger Charles Ponzi aus den 1920er-Jahren - bekannt als Namensgeber des zwielichtigen "Ponzi-Systems" - trugen dazu bei, dass Minsky sein Markenzeichen, die "Hypothese der finanziellen Instabilität", entwickelte.
Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die gesamte Struktur hängt vom Glauben an stetig wachsende Vermögenswerte ab und basiert somit auf einem Schönwetterszenario. Sobald die Vermögenswerte sinken und Kreditnehmer sowie Kreditgeber realisieren, dass die Schulden im System niemals zurückgezahlt werden können, kommt es zu Panikverkäufen. Das beschleunigt den Preiszerfall - und der Minsky-Moment ist da.
Die grosse Rezession von 2007/08 mag der bisher grösste Minsky-Moment gewesen sein - aber bei weitem nicht der einzige.
So begann beispielsweise die asiatische Finanzkrise von 1997 mit dem Zusammenbruch des thailändischen Baht, bevor sie sich auf andere ostasiatische Volkswirtschaften ausbreitete. Die hohe Privatverschuldung wirkte dabei wie ein Brandbeschleuniger.
Auch der Crash des chinesischen Immobilienmarktes im Jahr 2021 wurde durch die steigende Verschuldung ausgelöst. Er verschärfte sich durch die Auswirkungen der Covid-Pandemie auf die überschuldeten Bilanzen und gipfelte im Konkurs des Immobilienkonzerns Evergrande.
Es ist sogar denkbar, dass wir uns aktuell wieder in einer Minsky-Ära befinden.
Da die weltweite Verschuldung ansteigt, verstärken sich jedenfalls die Voraussetzungen für einen weiteren Minsky-Moment. Es bleibt abzuwarten, ob sich seine Rezepte beim nächsten Kollaps durchsetzen werden: rasche Interventionen der Zentralbanken, um Liquidität bereitzustellen, staatliche Rettungsaktionen, um wichtige Finanzinstitute zu stabilisieren, sowie eine internationale Zusammenarbeit, um grenzüberschreitende Finanzkrisen zu bewältigen.