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Finanzwissen

Amartya Sen: Mutter Teresa der Wirtschaftswissenschaften?

Wie entstehen Hungersnöte? Amartya Sen, erster Inder mit Wirtschaftsnobelpreis, erklärte 1981: Nicht aus Lebensmittelknappheit. Sondern aus Ungleichheiten in der Nahrungsverteilung. 

  • von Wendy Cooper, Gastautorin
  • Datum
  • Lesezeit 5 Minuten

Amartya Sen, Professor, Harvard Universität
Harvard-Professor Amartya Sen - geprägt von den Auswirkungen der Hungersnot auf den indischen Subkontinent 1943 - hat das Verständnis von Wirtschaft weltweit beeinflusst. © Christopher Morris/VII/Redux/laif

"Hunger bedeutet, dass einige Menschen nicht genug zu essen haben. Hunger ist jedoch kein Symptom dafür, dass es nicht genug zu essen gibt."

Zu dieser ebenso einfachen wie bahnbrechenden Erkenntnis kam Amartya Kumar Sen vor mehr als 80 Jahren als Jugendlicher - nach einer Begegnung mit Hungeropfern in seiner Heimat Bengalen.

Der heute 91-jährige indische Ökonom und Philosoph hat seine beeindruckende akademische Laufbahn - und mehr als zwei Dutzend Bücher - dazu genutzt, seine Einsicht sowie ihre weitreichenden Konsequenzen zu erklären. Damit will er die Armut bekämpfen und ein nachhaltiges Wachstum fördern.

Globaler Einfluss

Sens Arbeit hat weltweite Anerkennung erhalten. Für seine Beiträge zur Wohlfahrtsökonomie und zu den sozioökonomischen Chancen, die den Ärmsten einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, wurde er 1998 als erster Inder mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Sein Einfluss auf die Entwicklungsökonomie und darauf, wie wir sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt messen, ist kaum zu überschätzen.

Laut Sen können gesunde und gut ausgebildete Menschen bessere wirtschaftliche Entscheidungen treffen. Daher sollte man die menschliche Entwicklung eher nicht am Pro-Kopf-Einkommen ablesen, sondern vielmehr an der Förderung echter individueller Freiheiten, also an den Entwicklungsmöglichkeiten der Schwächsten.

Kindheit im Schatten der Hungersnot - Sens Weg zur Ökonomie begann früh.

Aus dieser Perspektive heraus entwickelte Sen gemeinsam mit der politischen Philosophin Martha Nussbaum und anderen seinen "Befähigungsansatz". Auf ihm basiert der Index der menschlichen Entwicklung ("Human Development Index", HDI) der Vereinten Nationen. Er geht weit über traditionelle Wirtschaftskennzahlen hinaus und berücksichtigt auch den Zugang zu Gesundheit und Bildung.

Die Hungersnot in Bengalen 1943 prägte Amartya Sen tief - eine humanitäre Katastrophe, die sein späteres Denken über Armut und Gerechtigkeit formte. © Shutterstock/Everett Collection

Sen hat den Grossteil seines Lebens an Universitäten verbracht. Doch seine Ideen, wie sich das Leben der Ärmsten der Armen verbessern lässt, ziehen ihre Kreise weit über die akademischen Elfenbeintürme hinaus.

Er kam 1933 in Santiniketan, nördlich von Kalkutta, zur Welt und wuchs auf dem Campus einer kleinen, fortschrittlichen Schule auf. Das war kein Zufall: Rabindranath Tagore - international bekannter Schulgründer, Schriftsteller, Philosoph und Dichter - war ein enger Freund seines Grossvaters mütterlicherseits.

Während seiner Schulzeit erlebte Sen die verheerende Hungersnot in Bengalen 1943 hautnah mit. "Eines Tages stolperte ein völlig verwirrter Mann herein", erzählte er der Zeitung Guardian anno 2001. "Ich sprach mit dem Mann - und merkte, dass er seit etwa 40 Tagen nichts mehr gegessen hatte."

Auf der verzweifelten Jagd nach Nahrung durchquerten immer mehr ausgemergelte Menschen den Schulcampus. Da begann Sen das schreckliche Ausmass der Katastrophe zu erahnen. Ihr zum Opfer fielen mehr als drei Millionen Menschen.

Von der Wirtschaftswissenschaft zur Philosophie

Diese prägenden Erfahrungen trugen dazu bei, dass Sen sich den Wirtschaftswissenschaften zuwandte.

1953 erwarb er seinen ersten Bachelor - mit Nebenfach Mathematik - am Presidency College, einem Zweig der Universität Kalkutta. Etwa drei Jahrzehnte später sollte dort auch sein Freund Abhijit Banerjee seinen Abschluss machen. Er ist mittlerweile ebenfalls Wirtschaftsnobelpreisträger.

Noch während seines Studiums am Presidency College diagnostizierten Ärzte bei Sen Mundkrebs. Sie gaben ihm eine Überlebenschance von 15 % für die nächsten fünf Jahre. Glücklicherweise lagen sie mit ihrer Prognose falsch.

Hungersnöten lagen nicht Mangel, sondern fehlende Kaufkraft zugrunde.

1955 erwarb Sen einen weiteren Bachelor in Wirtschaftswissenschaften, diesmal am Trinity College in Cambridge, Grossbritannien. Später promovierte er dort bei der legendären britischen Entwicklungsökonomin Joan Robinson.

Von 1998 bis 2004 stand er dem Trinity College vor. In dieser Zeit besann er sich auf sein Jugendinteresse, die Philosophie, zurück. So entwickelte er die philosophischen Ideen, die zu seinem Ruf beitrugen.

Amartya Sen, Professor, Harvard Universität
Sen erlebte wirtschaftliche Unfreiheit schon als Jugendlicher hautnah.

Sens wissenschaftliche Interessen reichen von Genderfragen bis hin zur Gerechtigkeit. Aber seine Erkenntnisse über Hungersnöte und deren gesellschaftliche Ursachen ziehen sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Schaffen.

In seinem 1981 erschienenen Buch "Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation" ("Armut und Hungersnöte: Ein Essay über Anspruch und Entbehrung", nicht auf Deutsch erhältlich) erklärt er, dass Hungersnöte nicht zwangsweise durch Lebensmittelknappheit entstehen müssen. Sie gehen vielmehr auf tief verankerte Ungleichheiten bei der Nahrungsmittelverteilung zurück. 

So wies er nach, dass die Hungersnot in Bengalen im Jahr 1943 nicht durch einen Rückgang der Nahrungsmittelproduktion verursacht wurde - diese blieb nämlich stabil. Der Kern des Problems war damals, dass sich viele Menschen schlicht keine Lebensmittel mehr leisten konnten. Denn die Löhne der Landarbeiterinnen und -arbeiter hielten nicht mit der Inflation Schritt.

Erinnerungen an Gewalt

Erschienen 1999: Amartya Sens "Ökonomie für den Menschen".

"In einer funktionierenden Demokratie hat es noch nie eine Hungersnot gegeben", behauptet Sen. Zu dieser Überzeugung gelangte er durch ein weiteres schockierendes Erlebnis in seiner Kindheit: die Gewalttaten zwischen Muslimen und Hindus vor der Teilung Indiens im Jahr 1947.

Sen erinnert sich, wie sich eines Tages ein muslimischer Tagelöhner durch das Hintertor seines Elternhauses schleppte und aus einer Stichwunde im Rücken blutete. Getrieben von extremer Armut suchte der Mann im mehrheitlich hinduistischen Viertel nach Arbeit - wohlwissend, dass er damit sein Leben riskierte und letztlich auch damit bezahlte. Für Sen wurde dieser Mann zum Symbol für die wirtschaftliche "Unfreiheit". 

In seinem viel beachteten Buch "Development as Freedom" (auf Deutsch: "Ökonomie für den Menschen") durchleuchtete Sen 1999 den Begriff der Unfreiheit sowohl wirtschaftlich wie auch politisch. Zehn Jahre später vertiefte er diesen Gedanken in "The Idea of Justice" (auf Deutsch: "Die Idee der Gerechtigkeit"). Gerechtigkeit sei nur dann möglich, wenn die Menschen echte Freiheiten und Chancen geniessen könnten.

Aussergewöhnliche Auszeichnung

Sen geniesst in akademischen Kreisen nach wie vor grosses Ansehen. Derzeit ist er Thomas W. Lamont-Universitätsprofessor in Harvard - ein Zeichen seiner aussergewöhnlichen Bedeutung. Zudem unterrichtet er Wirtschaftswissenschaften und Philosophie.

Dennoch hat seine Arbeit gelegentlich auch Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan gerufen.

Sie argumentieren zum Beispiel, dass epidemischen Krankheiten oft Hungersnöte auslösen würden. Andere warfen Senn vor, mit Schätzungen zu Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu locker umzugehen. Und kritische Stimmen von links monieren, dass er die Schattenseiten der Globalisierung übersehe und eine zu vorsichtige "Mainstream"-Haltung einnehme.

Das "unsterbliche" Vermächtnis

Karl Marx - einer von Sens prägenden intellektuellen Einflüssen. © Shutterstock/ Prachaya Roekdeethaweesab

Trotz Gegenwind hält Sen an seinem pragmatischen Ansatz bezüglich der grundlegenden Fragen der menschlichen Freiheit fest.

Karl Marx hat ihn intellektuell genauso beeinflusst wie Adam Smith und John Stuart Mill. Politisch gilt er zwar als links der Mitte, bezieht aber selten offen konkrete Positionen. "Ich konnte nicht genug Begeisterung aufbringen, um einer politischen Partei beizutreten", verriet er 2001 dem Guardian.

Unbestritten bleibt Sens moralisches Engagement - sein möglicherweise nachhaltigstes Vermächtnis. Seit seinem Wirtschaftsnobelpreis ist er in Indien als "Mutter Teresa der Wirtschaftswissenschaften" bekannt. Passend dazu bedeutet Amartya im Sanskrit übrigens "unsterblich".

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