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Lifestyle

Ist Wasser der neue Wein? Von der Quelle in die Haute Cuisine

"Still oder sprudelnd" war gestern: Immer mehr Spitzenrestaurants setzen auf Wasser als kulinarischen Begleiter - kuratiert von ausgebildeten Wassersommeliers und -sommelières.

Wie viel wären Sie bereit, für ein Glas Quellenwasser zu zahlen? Während sich immer mehr gesundheitsbewusste Konsumentinnen und Konsumenten vom Alkohol abwenden, werde Wasser das nächste grosse Ding in der Welt der Kulinarik. In den USA bieten inzwischen mehr als ein Dutzend Restaurants Wasserspezialitäten als Alternative zur Weinkarte an. © Shutterstock/taka1022

Michael Mascha erntete amüsierte Blicke, als er 2002 Wassersommelier wurde. Damals handelten selbst Spitzenrestaurants das Grundnahrungsmittel mit einer einzigen Frage ab: "still oder sprudelnd?". Von Wassersommeliers hatte noch niemand gehört. "Man hielt das Ganze für eine richtig dumme Idee", erinnert sich der österreichische Anthropologe und ehemalige Tech-Investor.

Michael Mascha ist seit 2002 Wassersommelier. Davor sammelte er Weine. © FineWaters

Fast 25 Jahre später sind die kritischen Stimmen verstummt. Mascha, der Gründer von Fine Waters, das eine Akademie, Konferenzen und Beratungsdienste anbietet, verfügt über ein wachsendes globales Netzwerk von Wassersommeliers, die mit ihrem Fachwissen und ihrer Leidenschaft für Terroir und Herkunft dem Wasser zu einem neuen Ruf im Fine Dining verhelfen.

"Hochwertiges Wasser wird gerade zum angesehenen Gourmet-Erlebnis", sagt Mascha, 67, im Gespräch von seinem Haus in Texas aus. "Immer mehr Menschen wollen ein neues Ritual zelebrieren, unbekannte Geschmäcker und Gerüche entdecken."

Wie schmeckt Wasser aus einem alten arktischen Gletscherbrocken, Jahrgang 13'000 v.Chr.? © Unsplash/Sergey Pesterev

Während sich immer mehr gesundheitsbewusste Konsumentinnen und Konsumenten vom Alkohol abwenden, werde Wasser das nächste grosse Ding in der Welt der Kulinarik, prophezeit der Vorreiter. Er selbst begann sich für Wasser zu interessieren, als ihn sein Kardiologe aufforderte, auf Wein zu verzichten - keine leichte Entscheidung für den leidenschaftlichen Weintrinker.

"Wenn Sie in einem Drei-Sterne-Restaurant einen 500-Dollar-Wein bestellen und dazu San Pellegrino trinken, wird das säurehaltige Bitzelwasser Ihren Wein völlig zerstören."

In den USA bieten inzwischen mehr als ein Dutzend Restaurants Wasserspezialitäten als Alternative zur Weinkarte an - zusammengestellt von Sommeliers, von denen die meisten Maschas sechsmonatigen Kurs absolviert haben. Er beobachtet schon einige Jahre, wie die Nachfrage nach Nischenwässern sprudelt. Und damit auch die Preise. Spezialitäten wie das "handgeschöpfte" Gletscherwasser der Marke Berg aus Grönland kosten bis zu CHF 75 pro Flasche. 

Von metallisch und chemisch über ledrig bis zu modrig: Wasser riecht und schmeckt nach mehr als bloss Wasser; Wassersommeliers beschreiben zum Beispiel Mundgefühl und Abgang. © istock/CampPhoto

Ein Brocken Arktis

Berg ist eines von etwa 20 Wässern auf der Speisekarte des "The Inn at Little Washington". Das mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Restaurant in Nord-Virginia ist bei den Tonangebern in Washington sehr beliebt. Mascha hat den Wassersommelier Cameron Smith ausgebildet und bei der Erstellung der Wasserkarte unterstützt. Er erzählt, dass kürzlich eine Milliardärin dort eine Verkostung hatte. "Sie kann mit ihrem Privatjet von einem Drei-Sterne-Restaurant zum nächsten fliegen und immer den besten Wein und das beste Essen der Welt geniessen", erklärt er. "Und sie meinte, noch nie eine solche Erfahrung gemacht zu haben."

Wassersommelier Doran Binder führt täglich Online-Wassertastings durch, berät Restaurants und Hotels. © Crag Spring Water

Wie schmeckt nun Wasser aus einem alten arktischen Gletscherbrocken (Jahrgang: 13'000 v.Chr.)? "Es ist ein sehr leichtes Wasser, das geschmeidig über den Gaumen gleitet", heisst es in den Verkostungsnotizen auf der Getränkekarte. Der entscheidende Faktor für Geschmack und Mundgefühl, so Mascha, ist der Mineraliengehalt eines Wassers, der in Milligramm pro Liter (Gesamtgehalt gelöster Feststoffe) gemessen wird.

"Es gibt sehr leichtes, weiches Gletscher- oder Eisbergwasser, das über lange Zeit dieselbe Konsistenz und Geschmacksqualität aufweist", erklärt er. "Oder man probiert Wasser, das lange Zeit im Boden war und viele verschiedene Mineralien aufgenommen hat." Durch diese Bandbreite von weich bis hart bieten sich unterschiedliche Wässer zur Kombination mit den verschiedenen Speisen an. 

Wasser mit einem hohen Siliziumdioxidgehalt und einem hohen pH-Wert fühlt sich weich, fast cremig an und passt gut zu einem süssen Dessert; Wasser mit hohem Natriumgehalt und einer leicht salzigen Note hingegen kann den Geschmack bitterer Lebensmittel hervorheben. © Shutterstock/Ivan Smuk

"Das richtige Wasser zum richtigen Essen bereichert das Erlebnis ungemein", so Mascha. Die Sanftheit von Eisbergwasser zum Beispiel unterstreicht die Aromen von Speisen wie Sashimi oder Kaviar. "Ein solch superleichtes Wasser würde jedoch seltsam schwach schmecken, wenn man es mit einem Steak oder einem schweren Wildgericht kombiniert. Zu diesen Speisen braucht man eher ein mineralstoffreiches Wasser, das sich gehaltvoller anfühlt."

Nicht jede Mineralität liefert die gleichen Ergebnisse. Laut Mascha fühlt sich Wasser mit einem hohen Siliziumdioxidgehalt und einem hohen pH-Wert "weich, fast cremig" an und passt gut zu einem süssen Schokoladendessert; Wasser mit hohem Natriumgehalt und einer leicht salzigen Note hingegen kann den Geschmack bitterer Lebensmittel wie dunkler Schokolade hervorheben.

Mehr als 100 diplomierte Wassersommeliers 

Seit der Gründung seiner Sommelier-Akademie im Jahr 2018 hat Mascha mehr als 100 Absolventinnen und Absolventen ausgebildet, weitere 100 lassen sich derzeit ausbilden. Manche von ihnen lernen im Fernstudium mit online bestelltem Wasser, und sie kommen aus der ganzen Welt - von Südafrika bis China und von Südamerika bis Bhutan. Laut Mascha haben die Anmeldungen in den letzten Jahren stark zugenommen. Einige wenige andere Zertifizierungsprogramme, unter anderem in Deutschland und Südkorea, bieten ebenfalls Schulungseinheiten zu Wassersorten, jedoch nur als Ergänzung ihres Weinlehrplans. "Wir hingegen konzentrieren uns ausschliesslich auf Wasser", bekräftigt Mascha.

Unterschiedliche Wasser von weich bis hart bieten sich zur Kombination mit verschiedenen Speisen an. © istock/hudiemm

Ein Grossteil der Nachfrage nach dem Wasser-Know-how kommt aus dem Gastgewerbe, oder aus dem Nischenmarkt für mitunter wenig bekannte Wasser-Marken, die in Fachkreisen schon lange gepriesen werden, doch nun dem breiten Publikum nähergebracht werden sollen.

In Grossbritannien bildete Mascha den ehemaligen Modefachmann Doran Binder aus. Dieser sattelte auf Wasser um, nachdem er unter einem verlassenen Pub, den er 2016 nach einer Scheidung kaufte, eine bemerkenswert reine Quelle entdeckte. Kurzerhand baute er den Pub zu einer Fabrik um. Heute zapft sein Team bei Crag Spring Water im Peak District täglich mehr als 1000 Liter ab. Der im Internet als "der bärtige Sommelier" bekannte Binder führt fast täglich Online-Wasserverkostungen durch und berät auch Restaurants und Hotels.

Zählt 20 Wässer auf der Speisekarte: The Inn at Little Washington. © The Inn at Little Washington

Binder sagt, dass bestimmte Käsesorten in Verbindung mit dem richtigen Wasser besonders gut zur Geltung kommen. Er empfiehlt einen guten spanischen Manchego mit einer Flasche Vichy Catalan, einem natürlich sprudelnden spanischen Wasser mit hohem Mineralgehalt, das seit 1881 hergestellt wird. "Das Wasser verändert die Textur des Käses und verwandelt ihn in dieses trüffelige, soufflierte, spektakuläre Etwas ... Jedes Mal, wenn ich ein Glas Vichy Catalan zum Käse serviere, bekommen meine Gäste vor Freude leuchtende Augen."

Ein weiteres Lieblingswasser von Binder (von seinem eigenen natürlich abgesehen) ist Chateldon 1650, ein limitiertes, sehr mineralhaltiges französisches Quellwasser aus der Auvergne. "Bevor man 1650 damit begann, es in Flaschen zu giessen, füllten es die römischen Soldaten in ihre Wasserkrüge, weil es ihnen Energie gab", sagt er.

Gutes Wasser: Niemals gekühlt

Binder hat auch gelernt, zwischen Mineralien zu unterscheiden: "Natrium ist salzig, Kalzium leicht süss und Magnesium ein wenig bitter." Egal, welches Mineral das Wasser präge: Der Schlüssel zum Genuss sei, es niemals zu kühlen. "Es muss Zimmertemperatur haben, sonst schmeckt es nach nichts."

Der Schlüssel zum Genuss sei, Wasser niemals zu kühlen. "Es muss Zimmertemperatur haben, sonst schmeckt es nach nichts." © istock/Diana Hirsch

Mascha thematisiert in seinen Kursen auch die Umweltauswirkungen der Wasserindustrie. Er sagt aber, dass Schuld daran vor allem die Verarbeitung und nicht die Entnahme aus der Natur sei. "Im Grunde ist das Wasser, das wir täglich kaufen und trinken, oft Leitungswasser unterschiedlichster Herkunft, das in irgendeiner Fabrik abgefüllt wird. Oft genug in Plastikflaschen. Und die Leute fahren in die Supermärkte, um Wasserkästen zu kaufen und das Wasser mit nach Hause zu nehmen - das ist der Wahnsinn", sagt er. Er trinkt im Alltag Leitungswasser, das er über einen unter seinem Waschbecken installierten Filter zapft. "Wenn wir bei Fine Waters über Wasser sprechen, geht es um einzigartiges Premium-Wasser, das ein Terroir hat und es verdient, in Flaschen abgefüllt zu werden", sagt er.

Spezialitäten wie eine Flasche "handgeschöpftes Gletscherwasser" der Marke Berg aus Grönland kosten bis zu CHF 75. © FineWaters

Der Österreicher beobachtet, wie die Spitzenrestaurants beginnen, ihre winzigen Wassermenüs mit Blick auf ihre Weinkarte zu überdenken. "Wenn Sie in einem Drei-Sterne-Restaurant einen 500-Dollar-Wein bestellen und dazu San Pellegrino trinken, wird das säurehaltige Bitzelwasser Ihren Wein völlig zerstören", sagt er. "Es hebt die Tannine hervor, reduziert die Fruchtigkeit und gibt dem Wein einen adstringierenden Charakter."

Was empfiehlt er stattdessen? "Ein viel weicheres Wasser, das all die Aromen des Weines hervorhebt. Glauben Sie mir: Es wird Ihre Einstellung zu Wasser komplett verändern."

Der Autor
Simon Usborne, Gastautor

Simon Usborne ist freiberuflicher Feuilletonist, Redakteur und Journalismusdozent in London, wo er unter anderem für die Sunday Times, die Financial Times und The Guardian schreibt.

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