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Unternehmertum

Künstliche Intelligenz im Personalwesen: dem Unmessbaren auf der Spur

Je mehr Daten, desto besser der "Match"? Im Recruiting gilt das nicht immer. Wenn es um urmenschliche Eigenschaften geht, haben selbst ausgefeilte KI-Systeme blinde Flecken. Im Gespräch mit Personalverantwortlichen, Tool-Anbietern und Wissenschaftlern zeigt sich: Gerade die echte, persönliche Nähe macht im Zeitalter der Deep Fakes den Unterschied.

Im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine: KI-Systeme unterstützen das Recruiting, ersetzen aber nicht das persönliche Gespräch - gerade wenn es um Empathie, Authentizität und kulturellen Fit geht. © freepik/KI

Zusammenfassung

  • KI im HR revolutioniert Prozesse, indem sie administrative Aufgaben automatisiert und so Zeit für strategische und persönliche Interaktionen schafft - doch viele Unternehmen stehen noch am Anfang der Umsetzung.
  • Der menschliche Faktor bleibt entscheidend: Trotz Effizienz durch KI können Fähigkeiten wie Empathie, Authentizität und kultureller Fit nur im persönlichen Gespräch wirklich beurteilt werden.
  • Transparenz und Verantwortung im Umgang mit KI sind zentral, um Akzeptanz bei Bewerbenden zu schaffen und Fehleinschätzungen durch "Pseudogenauigkeit" zu vermeiden.
  • Zukunft des HR ist hybrid: Die Personalabteilung entwickelt sich zur strategischen Drehscheibe, die sowohl menschliche Talente als auch digitale KI-Kolleginnen und -Kollegen effektiv steuern muss.

"Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?"

Das fragt Rachael, die Assistentin des CEO eines Roboterkonzerns, einen Detektiv. Sie wirkt elegant, korrekt, menschlich - verkörpert aber nur einen Prototyp der neuen Nexus-6-Replikanten im Kultfilm "Blade Runner" von 1982.

Von solchen Szenarien ist die Realität noch weit entfernt.

Dennoch breiten sich datengetriebene Systeme, die auf künstlicher Intelligenz (KI) basieren, rasant aus - gerade auch in Bereichen, die bisher stark vom menschlichen Kontakt geprägt waren. So transformieren sie zum Beispiel ganze Prozesse im Personalwesen.

KI-Tools formulieren und platzieren Stellenanzeigen, prüfen Lebensläufe, durchforsten Online-Profile und chatten mit Kandidatinnen und Kandidaten auf Social Media. Virtuelle Assistentinnen und Assistenten identifizieren diejenigen, die es in die nächste Runde schaffen. Und legen nebenbei eine digitale Personalakte an.

Schneller zur Wunschperson

Vicky Rittinghaus, Personalchefin, Medizintechnologieunternehmen
Vicky Rittinghaus, Personalchefin, Medizintechnologieunternehmen

"Im Kampf um Talente ist das Tempo ein Erfolgsfaktor. Mit unseren KI-Tools können wir Bewerberinnen und Bewerber schneller erreichen, sie präziser ansprechen und letztlich ein besseres Bewerbererlebnis schaffen", sagt Vicky Rittinghaus, die Personalchefin eines mittelständischen, international tätigen Unternehmens der Medizintechnologie aus Deutschland.

Während datengetriebene Systeme die Administration automatisierten, könne das Human Resources (HR) die Zeit für sinnvollere Interaktionen mit den Kandidatinnen und Kandidaten nutzen.

"Unsere Tools verkürzen für unsere Kundinnen und Kunden die Zeit, bis eine Stelle erfolgreich besetzt ist, um die Hälfte", gibt Carolin Jahn, Senior B2B Marketing Manager von Softgarden E-Recruiting, selbstbewusst zu Protokoll.

Unternehmen sehen Nachholbedarf

Viele Konzerne stehen bei der Nutzung von KI allerdings noch am Anfang. "In unserer Branche schreiben wir Datensicherheit und Compliance gross, darum wenden wir datengetriebene HR-Tools nur zurückhaltend an", sagt die Personalchefin der Niederlassung Dubai eines globalen Infrastruktur-Anbieters.

Ähnlich äussert sich der HR-Abteilungsleiter eines renommierten Forschungsinstituts: "Unsere Mitarbeitenden gehören zu den klügsten Köpfen. Sie sind in der Regel intrinsisch motiviert und suchen vor allem ein Umfeld, in dem sie ihre Projekte mit viel Freiraum vorantreiben können. Deshalb legen wir Wert auf den persönlichen Austausch auf Augenhöhe."

Eine Umfrage bei 300 Unternehmen durch die deutsche Gesellschaft für Personalführung (DGFP) zeigt, dass rund ein Drittel der Unternehmen bereits KI fürs Personalwesen nutzen. Studien des deutschen Digitalverbands Bitkom (2024) sowie die Haufe HR Service Experience Studie 2024 nennen etwas tiefere Zahlen, gehen aber von einer steigenden Tendenz aus.

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Zwischen Überlastung und Aufbruch: KI kann im HR entlasten - doch Talente wünschen sich mehr als Effizienz - sie suchen Sinn, Freiraum und echte Entwicklungsperspektiven. © istock/fizkes

Weniger Burnout dank KI?

Herman Aguinis, Management-Professor, George Washington University School of Business
Herman Aguinis, Management-Professor, George Washington University School of Business

"Auf 100 Angestellte kommen im Schnitt nur 1.4 Personal-Fachleute - und das, obwohl deren Aufgaben immer komplexer werden. Überlastung und Burnouts sind vorprogrammiert. Richtig eingesetzt können KI-Tools da Abhilfe schaffen", meint Herman Aguinis, Management-Professor der George Washington University School of Business - und gemäss Google Scholar der führende Experte für Talent Management. 

Aguinis empfiehlt ChatGPT als Assistenten, mit einer Einschränkung: "Datengetriebene Systeme sind ein Werkzeug, kein Selbstläufer. Sie können Entscheidungen vorbereiten, dürfen sie aber nicht treffen." Im Idealfall schaffen Tools Freiraum, damit HR-Profis mehr Zeit für langfristige strategische Fragen gewinnen - und gleichsam ihr eigenes Stellenprofil aufwerten.

Unterwegs zur Kompetenzorientierung

Fakt ist: Mehr als die Hälfte der Führungskräfte befürchten einen Talentmangel in ihrem Unternehmen. Und rund zwei Drittel bezweifeln, dass sie schon die Fähigkeiten mitbringen, die es morgen für den Erfolg am Markt braucht. Als Reaktion auf diese Unsicherheit haben 55 Prozent der Unternehmen begonnen, sich weg von klassischen Hierarchien hin zu einer kompetenzbasierten Organisation zu wandeln. Das zumindest offenbart der aktuelle Bericht "Global State of Skills" von Workday, einem globalen Anbieter von cloudbasierten Lösungen fürs Personal- und Finanzwesen. 

Carolin Jahn, Senior B2B Marketing Manager, Softgarden E-Recruiting
Carolin Jahn, Senior B2B Marketing Manager, Softgarden E-Recruiting © istock/imaginima

"Unsere Studie deutet darauf hin, dass das HR vermehrt KI nutzen will, um Qualifikationslücken zu identifizieren, das Recruiting zu verbessern und Weiterbildungsmöglichkeiten zu erleichtern", sagt Richard Doherty, Senior Director Product Marketing bei Workday.

Im Gegensatz zum Menschen konzentriert sich ein KI-System auf rationale Kriterien. Emotionen spielen bei der Entscheidungsfindung keine Rolle. Das kommt bei den Bewerberinnen und Bewerbern gut an. "Ist die Empfehlung der KI positiv, haben sechs von zehn Bewerbenden kein Problem damit. Entscheidet die KI aber eigenständig über die Einstellung, sind sieben von zehn Bewerbenden dagegen", zitiert Jahn eine Studie von Softgarden. Wichtig sei daher, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber den Einsatz von KI stets transparent kommunizieren.

Pseudogenauigkeit statt Überblick

Doch wagen wir an dieser Stelle eine Rückblende. Herbert Alexander Simon (1916-2001), Wirtschaftsnobelpreisträger und einer der Väter der KI, warnte bereits in den 1970er Jahren vor einem Überfluss an Informationen, der zu einem Mangel an Aufmerksamkeit führe. Eigentlich formulierte er nur das alte Sprichwort neu: Vor lauter Bäumen sehen wir den Wald nicht mehr.

Wo liegen die Grenzen unserer modernen HR-Cockpits im Datendschungel?

Klar ist: Eine automatisierte Auswertung ist nur so aussagekräftig wie die Daten, mit denen man sie füttert - da sind sich alle Befragten einig. Je nachdem verkommt der Bewerbungsprozess zu einem Wettlauf der Maschinen: KI-generierte Lebensläufe versuchen, bei den Algorithmen der Konzerne zu punkten. Diese stossen spätestens dann an ihr Limit, wenn es um Persönlichkeitsmerkmale und deren Übereinstimmung mit der Unternehmenskultur geht.

Digitale Tools helfen, Prozesse zu beschleunigen - doch echtes Vertrauen entsteht erst im persönlichen Austausch. Genau hier liegen die Grenzen rein datenbasierter Entscheidungen. © istock/vikialis

Persönliche Nähe gesucht

"Wenn wir durch effiziente Tools Zeit sparen, müssen wir sie nutzen, um uns auf nicht messbare Aspekte wie die Sozialkompetenz, die Anpassungsfähigkeit und das Führungspotenzial zu konzentrieren - Qualitäten, die gerade für Kaderpositionen in internationalen Unternehmen sehr wichtig sind", weiss Rittinghaus aus der Praxis. Sie ist überzeugt, dass Personalverantwortliche in Zukunft noch mehr Wert auf die persönliche Interaktion legen müssen: "Nur durch einen persönlichen Ansatz können wir eine Beziehung zu Kandidatinnen und Kandidaten aufbauen und ihnen Wertschätzung vermitteln."

Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre, Fachhochschule Nordwestschweiz
Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre, Fachhochschule Nordwestschweiz

Auch Doherty und Jahn betonten, dass HR-Tools nicht dazu gedacht sind, das menschliche Element in der Personalabteilung zu ersetzen. 

Noch kritischer sieht Mathias Binswanger das Phänomen KI. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien: "Die Verselbständigung des Kapitalismus - Wie KI Menschen und Wirtschaft steuert und für mehr Bürokratie sorgt". 

Seine These: Je mehr Daten wir anhäufen, desto mehr Instrumente brauchen wir, um sie nach unseren Wünschen zu steuern. Dies führe zu einer endlosen Controlling-Bürokratie und zu einer Pseudogenauigkeit, ohne dass wir wesentliche Informationen hinzugewinnen.

Comeback der klassischen Methoden

Entsprechend könnten uns auch datengestützte Beurteilungen zu Fehleinschätzungen verleiten. "Man kann eine Bewerbung so erstellen, dass sie von einer bestimmten KI als besonders gut erkannt wird. Viele menschliche Eigenschaften lassen sich aber nur im Gespräch herausfinden: Wirkt eine Person authentisch? Wie geht sie spontan mit Fragen um? Wie nehmen wir sie wahr?"

Binswanger erwartet darum eine Neubewertung des klassischen Bewerbungsgesprächs. "KI hilft uns, das Internet nach potenziell interessanten Kandidatinnen und Kandidaten abzusuchen. Im Zeitalter von Deep Fakes wird es aber immer wichtiger, sich mit Menschen persönlich vor Ort zu treffen und sie zu erleben."

Richard Doherty, Senior Director Product Marketing, Workday
Richard Doherty, Senior Director Product Marketing, Workday

Das schliesst nicht aus, dass wir uns in einem gewissen Sinn dennoch der "Blade Runner"-Welt annähern. So zeichnet sich bereits heute eine duale Belegschaft ab: Menschen arbeiten immer öfter mit digitalen "Kolleginnen und Kollegen" zusammen. "Die nächste Revolution im HR steht vor der Türe. Die Personalabteilung muss künftig nicht nur den Lebenszyklus der menschlichen Mitarbeitenden, sondern auch jenen der KI-Agentinnen und -Agenten managen", sagt Richard Doherty. Dazu gehöre, die Stärken und Schwächen der KI zu kennen, zu wissen, wo sie rechtlich tätig sein darf - und ihre Zugriffsrechte zu definieren.

"In dieser Funktion nimmt man das HR nicht länger als Verwaltungsfunktion wahr, sondern als Treiberin der Unternehmensstrategie", so sieht es Richard Doherty. Die Personalabteilung würde zur Steuerzentrale für Produktivität und Potenzial. Statt Routineaufgaben abzuarbeiten, könnten sich die Verantwortlichen strategischen Initiativen widmen - und zum Beispiel eine Innovationskultur und das Mitarbeiterengagement fördern.

In dieser Vision scheint Aguinis Recht zu behalten: Im besten Fall sorgen ausgerechnet Maschinen dafür, dass sich die Menschen bei der Arbeit wieder auf ihre eigentlichen Stärken besinnen können.

KI im HR bei LGT

Elvira Knecht, Head of HR Europe, LGT
Elvira Knecht, Head of HR Europe, LGT

Uns ist es wichtig, eine hohe Effizienz bei der Rekrutierung (Time-to-Hire) sicherzustellen. Genauso wichtig ist uns jedoch der persönliche Kontakt mit den Kandidatinnen und Kandidaten. Deshalb verfolgen wir einen ausgewogenen Ansatz, der datengesteuerte Tools mit dem persönlichen Austausch kombiniert. Im Rahmen unseres Digitalisierungsprojekts arbeiten wir beispielsweise an der Implementierung KI-gesteuerter Stellenbeschreibungen und einer Skill-Matching-Lösung. 

Diese datengesteuerten Tools helfen uns, administrative Aufgaben wie die Überprüfung von Lebensläufen und erste Kandidateninteraktionen zu automatisieren und den Rekrutierungsprozess somit erheblich zu beschleunigen. Dadurch können sich unsere Recruiter viel stärker auf den persönlichen Kontakt mit den Kandidatinnen und Kandidaten konzentrieren und somit Themen wie die persönliche Eignung und den kulturellen Fit sicherstellen.

Der Autor
Stephan Lehmann-Maldonado, Gastautor

Stephan Lehmann-Maldonado ist ein erfahrener Investment-Autor und diplomierter Handelslehrer, der nebenbei junge Lernende ausbildet – unter anderem als Mitinhaber einer Kommunikationsagentur.

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