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Unternehmertum

Handwerk: Aus alt wird neu

Im Schatten von Hightech und Digitalisierung floriert derzeit eine zuweilen unterschätzte Branche. Trotz (oder gerade wegen) der Ankunft von künstlicher Intelligenz und wirtschaftlichem Protektionismus sind handwerkliche Berufe auf guten Wegen in eine Renaissance.

Wo Technik unterstützt, aber nicht ersetzt: Handwerk behält seinen Wert. © Shutterstock/Evgeny Atamanenko

Zusammenfassung

  • Traditionelles Handwerk gewinnt wieder an Bedeutung, da Handelskonflikte und die Rückverlagerung von Produktion die Nachfrage nach lokal ausgebildeten Fachkräften erhöhen.
  • Anders als viele wissensbasierte Berufe bleiben die meisten handwerklichen Tätigkeiten weitgehend resistent gegenüber Automatisierung - selbst wenn KI Analyse und Planung unterstützt.
  • Strukturelle Fachkräfteengpässe, verstärkt durch alternde Belegschaften, Pandemieeffekte und veränderte Bildungspräferenzen, vergrössern die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage in vielen Gewerken.
  • Vom wachsenden Interesse der Gen Z an Berufslehren bis hin zum kulturellen Erbe des homo faber: Handwerk gewinnt sowohl als wirtschaftliche Notwendigkeit als auch als sinnstiftende Form praktischer Arbeit an Sichtbarkeit.

Handwerk gibt es schon seit Langem. Eine relativ frühe Erwähnung des "homo faber", des schaffenden Menschen, finden wir bei bei Appius Claudius Caecus im 4. Jh. vor Christi Geburt: "homo faber suae quisque fortunae", so schrieb der Autor und Staatsmann die lateinische Urfassung des deutschen Sprichworts, dass jeder Mensch seines eigenen Glückes Schmied (also Handwerker) sei. 

Antike Darstellung eines Schmieds: ein Blick auf die Ursprünge des homo faber und den festen Platz des Handwerks in der Kulturgeschichte © istock/clu

2200 Jahre nach Appius allerdings sang die Philosophin Hannah Arendt den politischen Abgesang auf den "homo faber", weil sie ihn vom "animal laborans" bedroht sah. In ihrem Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben stellte sie den machenden Menschen, der der mit seinem Tun Dinge schafft, die selbstständig in der Welt Bestand haben und diese mitprägen und verändern, demjenigen gegenüber, welcher sich einzig abmüht, um zu überleben. Arendt warnte davor, dass Homo Faber, der handwerklich, auch künstlerisch erschaffende und darin freie Mensch, im modernen Industriebetrieb einer auf Produktivität und Effizienz getrimmten modernen Gesellschaft eher zum blossen Arbeitstier, dem Animal laborans, werde.

Wenn globale Umbrüche das Lokale stärken

Trotz gesteigerter Automatisierung und technischem Fortschritt bei den Produktionsmitteln der Wirtschaft scheint es gegenwärtig, als realisiere sich Arendts Befürchtung eher nicht. Denn das Habitat des "animal laborans", eine globalisierte Wirtschaft mit schrankenlosem Handel und Wettbewerb, steht derzeit angesichts drohender Handelskriege und Zollschranken unter protektionistischem Druck. Und so sehr die aktuelle wirtschaftliche Grosswetterlage Ökonomen Anlass zur Sorge gibt, enthält sie doch zumindest für auf spezialisierte Branchen und Fachleute möglicherweise auch einen Lichtblick. Nicht nur machen durch Zölle verteuerte Importgüter manche im Heimmarkt gefertigten Produkte wettbewerbsfähiger und attraktiver. Werden in einem protektionistischen Geist Unternehmensbereiche wie Produktion und Fertigung sowie Teile der Lieferkette in die nationalen Binnenmärkte repatriiert, steigert das dort auch die Nachfrage nach "skilled trades", d. h. gut ausgebildeten Fachleuten. Dies wiederum erhöht den Stellenwert von handwerklich-technisch ausgerichteten Berufslehren und Fachhochschulen - so sehr, dass man sogar in den USA Investitionen zu ihrer Förderung und stärkeren Finanzierung erwägt. Vielleicht also stehen den Berufssparten also doch gute unternehmerische Aussichten ins Haus.

Während KI analysiert und berechnet, entsteht Handwerk wie dieses weiterhin durch menschliche Hände. © Westend61/Getty Images

Die Grenzen der Automatisierung

Einen weiteren Treiber der Nachfrage nach gestandenen Handwerkskönnern markiert der mögliche Anbruch des Zeitalters einer neuen Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (KI). Denn derweil die KI vielen Wissens- und Informationsarbeitern das Wasser abgraben kann, ist dieses Szenario für das Handwerk weniger realistisch. Zwar kommen KI und ChatBots etwa bei Sichtung und Diagnose eines handwerklichen Problems zum Einsatz, man denke etwa an einen Drohnenflug über ein beschädigtes oder zu renovierendes Hausdach, nach dem eine KI für die Dachdecker Dimensionen und benötigte Materialien berechnet und vorschlägt. Aber bis KI oder Roboter notfallmässig ein verstopftes Klo entblocken, ein kaputtes Schloss ersetzen, eine massgezimmerte Küche oder Bad einbauen, die neue Verkabelung bei der Renovation des Altbaus ziehen, die gute Wärmepumpe oder Klimaanlage installieren oder den englischen Landschaftsgarten kuratieren und kultivieren, dürfte es noch ein Weilchen dauern - falls eine KI überhaupt einmal mit singulären, einzigartigen und handfesten Herausforderungen der Realität fertig wird. Handwerk steht daher tatsächlich auf dem sprichwörtlichen goldenen Boden. 

Arbeitskräftelücke im Handwerk: Ein wachsendes Problem

Kein Wunder also, dass die Nachfrage nach handwerklichem Talent nicht nur bleibt, sie steigt sogar. Erst recht, wenn man bedenkt, dass schon seit einiger Zeit, aber verschärft wegen der der Covid-Pandemie, ein Fachkräftemangel in handwerklichen Berufen grassiert. Während die Heimwerker- und Hobbyzunft florierte und die Umsatzzahlen von Baumärkten nach oben trieb, sank der Umfang handwerklicher Tätigkeiten durch Lockdowns und Arbeitseinschränkungen. Gemäss der Unternehmensberatung McKinsey ist beispielsweise in den USA die Situation aufgrund erhöhter Nachfrage und begrenztem Angebot geradezu dramatisch. Laufende, vom US-Kongress verabschiedete und finanzierte nationale Infrastrukturprojekte, Umstellung von Industrie und Gewerbe in der Energiewende sowie eine prosperierende Baubranche (unter anderem waren leerstehende Büroflächen in Wohnraum umzubauen) trieben die Nachfrage nach handwerklichen Arbeitskräften in die Höhe, so McKinsey.

In der Folge waren Ende 2023 bspw. alleine im US-Bauwesen 347'000 Stellen unbesetzt. Im metallverarbeitenden Gewerbe fehlten sogar 584'000 ausgebildete Schweisser, Löter, Stanzer und Schmiede. Auch in der Elektriker-Branche sieht es kaum anders aus. Dieser spielt laut McKinsey die Überalterung der Belegschaften besonders mit: 30 % der gewerkschaftlich organisierten Elektriker gehen innerhalb des nächsten Jahrzehnts in Pension, 70 % der Vorarbeiter gehören laut dem Branchenverband National Electrical Contractors Association der Baby-Boomer-Generation an. Ihre Nachfolge ist alles andere als gesichert, empfinden doch jüngere Generationen die Ausbildung in einem handwerklichen Beruf als stigmatisiert und folgen lieber dem Rat ihrer Eltern, am College zu studieren.

Infrastrukturvorhaben treiben die Nachfrage nach Bau- und Handwerkskompetenz weiter in die Höhe. © Peri.com

Dabei ist ein Universitätsabschluss nicht unbedingt ein Freipass zu einer besseren Karriere und höherem Wohlstand als eine Handwerksprüfung. In Deutschland, wo im Jahr 2023 gemäss dem Wirtschaftsmagazin BrandEins 5.6 Millionen Menschen in 1 Million Handwerksbetrieben EUR 800 Milliarden erwirtschafteten, verdient ein Handwerker mit Meisterbrief als Angestellter durchschnittlich EUR 4892 im Monat, mehr als Universitätsabsolventen mit Bachelor im Mittel. Auch übers gesamte Erwerbsleben gesehen schneiden Handwerkfachleute oft besser ab, da sie bereits als 18-Jährige Lohn beziehen, während Akademiker oft noch jahrelang studieren, bis das erste Monatsgehalt eintrifft. 

In den USA, mit ihren exorbitanten Studiengebühren an Elite-Universitäten, scheint diese Einsicht bereits Folgen zu zeitigen. Gemäss einem grossen Artikel im Wall Street Journal, "Wie Gen Z zur Generation Werkzeuggürtel wird", stiegen die Immatrikulationszahlen bei technisch und handwerklich spezialisierten Berufsschulen (sogenannten "Vocational-focused Community Colleges") seit drei Jahren stetig, im vorvergangenen Jahr um 16 %. Die Studienanfänge über das gesamte Spektrum der vierjährigen Studiengänge an Colleges stagnierten dagegen. Ausschlaggebend für den Trend hin zum Handwerk seien gemäss dem WSJ nicht nur stetig steigende Anfangs- und Mediangehälter, die (etwa im Baugewerbe mit im Mittel USD 69'200 Jahresgehalt) eine Mittelklassenexistenz ermöglichten. Gerade angesichts der Unsicherheit, ob und wie sich die KI-Revolution auf den Arbeitsmarkt auswirken wird, versprechen handwerkliche Berufe ein langfristig und nachhaltig gesichertes Auskommen. Zudem erfahren die neuen "homines fabri" der GenZ dank der handfesten Resultate ihres Wirkens als Schweisser, Elektriker, Konstruktionsfachleute auch eine gewisse Sinnerfüllung und Befriedigung im Arbeitsleben.

Junge Handwerker auf der wieder belebten Walz – ein Bild für die Mobilität und Vielseitigkeit moderner Gewerke © Jan Richard Heinicke/laif

Damit einher geht wohl auch, dass so manche Sparte künstlerisch angehauchter Handwerksberufe ihren besonderen Reiz hat. Coole Kleinbrauereien mit Spezialbieren, Influencer-freundliche Frisörsalons für Fashionistas, Mikrodestillierer mit ausgewählten Bränden, Spezialkaffee-Baristas, Biometzgereien und Boutique-Restaurants für Gourmets sind hip und trendy - und mit ihnen das berufliche Rüstzeug, das solch handwerkliches Unternehmertum überhaupt erst ermöglicht. In seinem Buch "Masters of Craft" vertritt der Soziologe Richard E. Ocejo von der City University of New York gar die These, dass das "Hipster-Revival" vom Kunsthandwerk auch auf prosaischere handwerkliche Berufe ausgeweitet werden kann (wenngleich er ebenfalls vor verzerrten Wahrnehmungen der wirtschaftlichen Realität dieser Berufssparte durch die Hipsterbrille warnt).

Vom Kunsthandwerk bis zur Walz: Traditionen im Aufwind

Im Markt für Kunsthandwerk oder "artisanal craftwork", das ein weites Feld vom Goldschmieden, Textilien, Keramik, der Holz- und Metallverarbeitung bis zu vielen anderen Herstellungsverfahren von Designer-Gebrauchsgegenständen zur Verschönerung des täglichen Lebens beackert, ist das Realität. Gemäss einer Mitteilung des Marktforschungsinstituts Future Market Insights (FMI) vom März dieses Jahres soll der Weltmarkt für das Kunsthandwerk in diesem Jahr fast USD 428 Milliarden an Wert schöpfen. Dank prognostizierten Trends zu steigendem Reisetourismus und Souvenirhandel, zunehmend beliebter Heimrenovation und Innendekoration und dank einer den Handel stark vereinfachenden Online-Verkaufsinfrastruktur sagt FMI gar eine Marktgrösse von USD 1.16 Billionen und jährliche Wachstumsraten im zweistelligen Bereich bis ins Jahr 2035 voraus. 

Gewiss, das sind Prognosen, und die können und die können daneben liegen. Aber was spricht dagegen, dass auch Automechanik, Haushaltsdienstleister, Baubranchenberufe oder Elektriker einen hippen Echtweltschub an Aufhübschung, Innovation und Coolness erfahren? 


© Luciano Viti/Getty Images

In den Vereinigten Staaten jedenfalls springen Handwerksverbände auf den Zug auf, unterstützen die aufblühende Handwerksbranche nach Kräften und lancieren Initiativen und Programme wie z. B. den "Skilled Trades Advisory Council", die virtuelle Ausbildung "Path to Pro" von The Home Depot oder die Platform Angi.com (auch als Angie’s List bekannt), welche Handwerkprofis und Projekte zusammenbringt. Gemeinsam will man die Reputation des Handwerks verbessern und die Berufslehre und Ausbildung in Handwerksberufen beispielsweise mit stipendierten Lehrgängen, begleiteten Praktika oder forciertem Zusammenarbeiten zwischen Ausbildungsinstituten und Industrie vorantreiben.

Neue Impulse für Handwerk und Ausbildung

Unterstützt werden diese Unterfangen dabei auch von höchster politischer Instanz. Nach dem Vorbild der dualen Ausbildung, wie sie in Deutschland oder der Schweiz Routine ist, soll auch die berufliche Bildung in Amerika aufgewertet werden. Heute bringen Think-Tanks in der US-Hauptstadt Washington das Thema Lehre und Berufsschulen aufs Tapet - wie das Beispiel American Compass zeigt, der die Revitalisierung der Berufslehre fordert. Und im Herbst vergangenen Jahres unterzeichneten die Schweiz und die USA ein Austauschprogramm mit Lehrgängen und Praktika für Auszubildende zwischen den beiden Ländern - eine Initiative der Biden-Administration, die die Regierung Trump weiter fördert. 

Dem Handwerk wird also gerade der goldene Boden neu verlegt, auf dem er vielleicht schon immer stand. Denn seit der Antike zeigen Handwerker, wo in Sachen Erfindergeist und Innovation der Hammer hängt. Das zeigt sich nicht zuletzt an zahlreichen Redewendungen, die auch heute noch ans Handwerk gemahnen: Nicht nur versteht man sein oder legt man jemandem das Handwerk oder pfuscht ins selbige hinein. Auch der Schnitzer, der jemandem unterläuft, ist von einem Fehler des schreinernden Homo Faber inspiriert. Wo gehobelt wird, da fallen bekanntlich Späne. Selbst der Ausdruck Schlitzohr verdient sich der handwerklichen Zünfte: Handwerksgesellen trugen im Mittelalter zur Kennzeichnung ihrer Zunft- oder Gildenzugehörigkeit Ohrringe, welche man ihnen bei Vergehen gegen den handwerklichen Ehrenkodex zur Strafe unsanft herausriss. Das aufgeschlitzte Ohrläppchen war fortan ein Stigma für einen von der Tugend abgefallenen (ehemaligen) Handwerker, ein Schlitzohr halt. Nicht dass dieser Brauch wieder eingeführt werden sollte. Auch das Mühlrad muss einem nicht im Kopf herum gehen - es wird auch so ein Schuh draus: Handwerkliche Künste sind mit der Geschichte der Menschheit innig verbunden, und in der Geschichte des Handwerks beginnt womöglich dieser Tage ein neues Kapitel.

Der Autor
Marc Neumann, Gastautor

Marc Neumann ist freischaffender Autor, Korrespondent und Texter. Nach langjähriger Presse- und Kommunikationsarbeit in der Medienbranche sowie Economic Development/FDI widmet der gelernte Philosoph heute seine journalistische Neugier Themen aus dem kulturellen, politischen und intellektuellen Zeitgeschehen der USA. Neumanns Artikel erscheinen in den Feuilletons von Schweizer Zeitungen und Zeitschriften, darunter die Neue Zürcher Zeitung, Schweizer Monat und Die Weltwoche. Seit über 20 Jahren in den Vereinigten Staaten ansässig, lebt Neumann nach Station in New York City und Puerto Rico mit seiner Familie seit 2014 in Washington, DC.

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