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Market View & Insights
Eine karrierefixierte Jagd nach Zielen ist verschwendete Lebenszeit, sagt die ehemalige Tech-Unternehmerin und heutige Neurowissenschaftlerin Anne-Laure Le Cunff. In ihrem Bestseller "Tiny Experiments: How to Live Freely in a Goal-Obsessed World" rät sie, aus dem Hamsterrad auszusteigen und die Ungewissheit anzunehmen.
Von Paris ins Silicon Valley zu kommen, fühlte sich an, als sei ich an einem ganz besonderen Ort, wo alles extrem schnell passierte. Ich fühlte mich privilegiert und lernte unglaublich viel in kurzer Zeit. Gleichzeitig war die Definition von Erfolg im Valley aber bereits sehr klar festgelegt. Es war, als läge eine perfekt durchgeplante Laufbahn vor mir - und ich verlor das Interesse. Es gab keinen Raum für Fragen, keinen offenen Weg, wohin ich als Nächstes gehen oder was ich ausprobieren wollte.
Der traditionelle Weg folgt einer linearen Definition von Erfolg: man durchläuft bestimmte Schritte in fester Reihenfolge, meistens mit Gatekeepern, die entscheiden, wann man die nächste Sprosse der Karriereleiter erklimmen darf. Die Alternative ist ein experimenteller Ansatz, bei dem man seiner Neugier folgt, um herauszufinden, womit man sich beschäftigen und was man erforschen möchte. Anstatt sich an die Illusion zu klammern, genau zu wissen, wohin man geht, nimmt man die Unsicherheit und den Entdeckungsprozess an. So entsteht eine Laufbahn, die einzigartig ist - statt ein kopiertes Erfolgsmodell anderer.
Nehmen wir eine Person in einem Unternehmen, die einen Newsletter starten möchte. Nach dem klassischen Zielansatz würde man sagen: "Wir starten diesen Newsletter und wollen bis Jahresende 20 000 Abonnenten." Das ist ein lineares Ziel, das auf einem festen Ergebnis beruht und Erfolg oder Scheitern binär definiert. Mit dem experimentellen Ansatz würde man stattdessen ein kleines Experiment entwerfen: zum Beispiel jede Woche einen Newsletter bis Jahresende schreiben - mit dem Ziel, dabei möglichst viel zu lernen. Man legt nicht fest, wie viele Abonnenten erreicht werden, weil man gar nicht weiss, was funktioniert und was nicht.
Nein. Man nähert sich der Herausforderung wie eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler. Wenn ein Experiment startet, kennt man das Ergebnis nicht. Das Ziel ist allein, etwas Neues zu lernen. Ein kleines Experiment schafft einen Spielraum oder eine Sandbox, in der man eigene Daten sammelt und reflektiert, was funktioniert hat und was nicht.
Ein Pakt ist ein Mini-Protokoll für Experimente - eine Verpflichtung zur Neugier. Ganz einfach: "Ich werde [Aktion einsetzen] für [Dauer einsetzen]." Darin stecken dieselben Zutaten wie in einem wissenschaftlichen Experiment: Was wird getestet, und wie oft. Pakte funktionieren im Beruf, aber auch in allen anderen Lebensbereichen.
Es ist eine Verpflichtung zur Neugier
Beispiel: Man hat noch nie meditiert, ist aber neugierig. Dann könnte man sagen: "Ich werde zwei Wochen lang jeden Morgen meditieren" - und schauen, was passiert. Oder: "Ich werde drei Wochen lang jeden Mittag spazieren gehen" und die Wirkung beobachten.
Wichtig ist, dass man sich verpflichtet, Daten zu sammeln und mit dem Urteil bis zum Ende wartet - so wie Wissenschaftler ihre Daten nicht mitten im Experiment bewerten. Erst am Schluss fragt man sich: "Hat mir das gefallen? Welche Wirkung hatte es? Habe ich besser geschlafen, mich wohler gefühlt, weniger Stress gehabt?"
Genau deshalb heissen sie Tiny Experiments, also kleine Experimente. Sie sind sehr, sehr klein. Es bringt nichts, sich zu viel vorzunehmen, nach einer Woche überfordert zu sein und aufzuhören. Man kann Experimente schon über fünf Tage machen. Und sie kosten nicht zwingend mehr Zeit - oft verändert man nur etwas minimal im Alltag, zum Beispiel wie man Meetings führt.
Das hängt von der Länge ab. Im Buch stelle ich ein einfaches Werkzeug vor: "Plus-Minus-Next". Drei Spalten: Plus für alles, was gut lief; Minus für das, was nicht gut lief; Next für das, was man beim nächsten Mal anpassen möchte.
So entstehen Wachstumszyklen: egal wie das Experiment verlaufen ist, man lernt daraus und kann die Erkenntnisse direkt in die nächste Runde übertragen. Für grössere Entscheidungen empfehle ich ein Steuerungsblatt, das sowohl innere als auch äussere Erfolgssignale berücksichtigt.
Das Steuerungsblatt fördert Metakognition - die Fähigkeit, unsere eigenen Gedanken, Verhaltensweisen und Gefühle zu beobachten und zu reflektieren. Äussere Erfolgssignale sehen wir meist sehr gut: Umsatz, Abonnentenzahlen, messbare Ergebnisse. Innere Signale übersehen wir oft: Wie hat es sich angefühlt? Wenn ein Projekt zwar viel Geld eingebracht hat, man es aber gehasst hat - ist das wirklich ein Erfolg, und möchte man ihn wiederholen? Wohl kaum.
Es ist ein Irrtum zu glauben, es müsse immer auf etwas Grosses hinauslaufen. Wir sind besessen von der Idee, ein Vermächtnis zu schaffen. Wichtiger ist jedoch die Generativität: also der unmittelbare Einfluss auf die Menschen um uns herum. Kleine Experimente ermöglichen es, im Kleinen sofort Dinge zu verändern, statt sich an einer "grossen Idee" abzuarbeiten, über die vielleicht in 300 Jahren gesprochen wird.
Durch ständige Zyklen des Ausprobierens und Wachsens entsteht viel bedeutsamer Wandel - und zwar im Hier und Jetzt, in der eigenen Gemeinschaft, und zu Lebzeiten.
Einen kleinen Pakt schliessen:
"Ich werde [Aktion einsetzen] für [Dauer einsetzen]."
Am Ende auswerten:
Mit einem Steuerungsblatt vertiefen:
Zur Person
Dr. Anne-Laure Le Cunff ist Gründerin von Ness Labs und Neurowissenschaftlerin am Institute of Psychiatry, Psychology & Neuroscience, King’s Collage London. Le Cunff tauschte die Tech-Welt gegen die Erforschung von mentaler Gesundheit, Kreativität und Produktivität aus neurowissenschaftlicher Perspektive ein. Sie gründete Ness Labs, eine Plattform und Community für "mindful productivity", die sich mit persönlicher Entwicklung und nachhaltigen Arbeitsweisen beschäftigt. Zudem ist sie Autorin von "Tiny Experiments: How to Live Freely in a Goal-Obsessed World", das 2025 erschienen ist.