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Singapurs Formel für innovative Lebensmittel: Öffentlich-private Kooperationen

Wenn es um Lebensmittelinnovationen geht, ist Singapur der "place to be". Was macht den Stadtstaat so attraktiv für Start-ups und Unternehmen?

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Autor
Andrew Genung, Gastautor
Lesezeit
8 Minuten
City center

Am 7. März 2019 begingen die Singapurer wie jedes Jahr ihre Nationalfeier und gedachten dem Jahrestag der Ankunft von Sir Stamford Raffles vor 200 Jahren – mit gemischten Gefühlen dem Kolonialisten gegenüber. Am selben Tag verkündete der Minister für Umwelt und Wasserressourcen des Stadtstaates ein ehrgeiziges neues Ziel für ein noch unabhängigeres Singapur: Bis zum Jahr 2030 soll der Stadtstaat 30 Prozent seiner Lebensmittel im eigenen Land produzieren. 

Eat Just
2020 verkündete das amerikanische Start-up Eat Just, dass es in Singapur die "weltweit erste behördliche Zulassung für kultiviertes Fleisch" erhalten hatte.

Zwei Jahre später, im April 2021, waren die Lebensmittelinnovationen in Singapur so überwältigend, dass der amerikanische Chefredakteur von The Spoon, einer Online-Publikation über Investments und Innovationen im Lebensmittel-Bereich, seine Kolumne mit den Worten begann: "Ich weiss nicht, wie ich es meiner Frau beibringen soll. Aber unsere Familie muss ihre sieben Sachen packen und nach Singapur auswandern. Denn seien wir ehrlich: Wenn wir die Zukunft des Essens heute erleben wollen, ist Singapur der place to be."

Viele der weltweit führenden Lebensmittelunternehmen und Startups sehen das genauso. Allein in den letzten Monaten haben der amerikanische Gigant Archer-Daniels-Midland (ADM) und der schweizerische multinationale Konzern Givaudan neue Forschungs- und Entwicklungslabors in Singapur eröffnet. Kleinere Unternehmen aus Hongkong, Festlandchina und Deutschland ziehen nach. 

Das Singapurer Rezept für Innovation: Fördergelder und Regulierung

Nicht alles an diesem explosiven Wachstum kann dem "30 by 30"-Ziel der Regierung zugeschrieben werden – die Stadt hat schon lange vor 2019 ihre Aquakultur modernisiert und mit vertikalen Gemüsefarmen experimentiert – aber Unternehmen und Investoren erklärten im Gespräch mit MAG/NET immer wieder, dass sie einen Grossteil dieser Boomzeit der Singapurer Regierung zu verdanken haben. Singapur habe diese neuen «Food Innovation»-Geschäfte mit zwei Hebeln gefördert: Traditionelle staatliche Fördergelder und eine vorausschauende Regulierung.

Charrie Chan
"Die Regierung hilft uns mit allem," sagt Avant Meats CEO Charrie Chan über SIngapur.

Carrie Chan, CEO von Avant Meats, einem Startup-Unternehmen für im Labor gezüchtete Meeresfrüchte, erzählte MAG/NET, dass Hongkong während den frühen Tagen ihres Unternehmens der perfekte Ort für ein Startup war. "Hongkong ist ein grossartiger Ort, um von Null auf Eins zu starten", sagte sie und verweist auf die voll ausgestatteten Labor- und Büroräume, die die Stadt in ihren Entwicklungsprojekten Cyberport und Science and Technology Park eingerichtet hat. Doch irgendwann wuchs Avant über die Grenzen des Hongkonger Biotech-Immobilien- und Talentmarkts hinaus und begann, sich im Vereinigten Königreich, in den USA und an einigen anderen Orten in Asien nach Expansionsmöglichkeiten umzusehen.

Singapur bot sowohl einen günstigen Standort (Avant möchte in der Nähe des riesigen asiatischen Lebensmittelmarktes bleiben) als auch Anreize, die in mancher Hinsicht die von Hongkong übertrafen. "Die Singapurer Regierung hilft uns bei allem", so Chan. "Die finanzielle Unterstützung ist mit der von Hongkong vergleichbar, und das Economic Development Board (EDB) hilft uns, Visa für wichtige Mitarbeiter zu beantragen und nach lokalen Talenten zu suchen.» Und obwohl Temasek, die grosse staatliche Investmentgesellschaft, noch nicht in Avant investiert, sei sie sehr hilfreich gewesen, um das Unternehmen mit potenziellen Geschäftspartnern bekannt zu machen und es mit der grösseren Infrastruktur für Lebensmittelinnovationen in Verbindung zu bringen. "Bei allem, was wir brauchen, ist die Regierung zur Stelle", sagt Chan.

Letztendlich entschied sich Avant jedoch nicht wegen der Steuergutschriften und Geschäftsverbindungen für Singapur, sondern weil die dortige Regierung die Lebensmittelinnovation besonders ernst nahm. Anfang Dezember 2020 gab das amerikanische Lebensmittel-Startup Eat Just bekannt, dass es in Singapur die "weltweit erste behördliche Zulassung für kultiviertes Fleisch" erhalten hatte, und begann kurz darauf mit dem Verkauf von im Labor kultivierten "Chicken Bites" in einem lokalen Restaurant. Avant, das im Labor gezüchtete Fischmägen, Seegurken und andere Meeresfrüchte entwickelt hat, liess sich von Eat Just inspirieren. Hongkong und Singapur sind zwar ähnlich attraktiv mit ihren staatlichen Anreizen für Labors und Lohnkostenzuschüssen – aber Avant wollte dort sein, wo es seine Produkte verkaufen kann.

Singapur zieht Talente und Investments an

Hinter diesen staatlichen Anreizen und den Regulationen steht eine schwindelerregende Anzahl von Regierungsbehörden, die von aussen ein bürokratisches Chaos bilden. Im Mittelpunkt steht A*STAR, Singapurs Agentur für Wissenschafts- und Technologieforschung, zu der auch SIFBI, das Singapore Institute for Food and Biotechnology Innovation, gehört. A*STAR hat sich auch mit Temasek Holdings zusammengetan, um ein Food Tech Innovation Centre (FTIC) zu errichten, das laut Dr. Hazel Khoo, Executive Director von SIFBI, in Singapur "die steigende Nachfrage von Food-Tech-Start-ups nach erschwinglichen biowissenschaftlichen Labors, Pilotanlagen und Plattformen befriedigen wird."

Dr. Hazel Khoo
Dr. Hazel Khoo, Executive Director des Singapure Institute for Food and Biotechnology Innovation, hilft Start-ups in Singapur, sich zu etablieren.

Das neu geschaffene Future Ready Food Safety Hub (FRESH) behandelt ausserdem jegliche Fragen zur Lebensmittelsicherheit. Das FRESH bezeichnet Dr. Khoo als eine nationale wissenschaftliche öffentlich-private Partnerschaftsplattform im Rahmen des Singapore Food Story Programme, die gemeinsam von A*STAR, der Singapore Food Agency (SFA) und der Nanyang Technological University (NTU) eingerichtet wurde.

Ausserdem bietet Singapur auch das Institut für Molekular- und Zellbiologie (IMCB) von A*STAR: Gedacht ist das IMCB für innovative Lebensmittelunternehmen, die auf zellulärer Ebene arbeiten – wie beispielsweise das amerikanische Startup Perfect Day, das tierfreie Molkereiprodukte herstellt. Das IMCB arbeitet mit Perfect Day und dem EDB von Singapur an einem neuen Research & Development-Labor für kultivierte tierische Proteine.

Das sind eine Menge Akronyme, aber laut Carrie Chan von Avant "ist das Umfeld hier sehr synchronisiert. Alle Agenturen wissen, worauf sie hinarbeiten, und sie tun es alle gemeinsam."

Andrew Ive
Andrew Ive, CEO von Big Ideas Ventures, beobachtet, wie Singapur den Grundstein für eine neue Industrie legt.

Andrew Ive, CEO der New Yorker Venture Capital Firma Big Ideas Ventures, stimmt dem zu. "Es gibt einen Plan, ein Budget und ein engagiertes, hochprofessionelles Team in der gesamten Regierung, das sich für echte Fortschritte einsetzt. Sie sind dabei, die Grundlage für eine neue Industrie zu schaffen". Ive, dessen Firma sich auf Investments in Lebensmittelinnovationen spezialisiert hat, sagt, dass die Dynamik immer noch stark ist. "Wir haben Unternehmen in unserem Portfolio und ausserhalb unseres Portfolios, die ernsthaft in Erwägung ziehen, wichtige Aspekte ihres Geschäfts nach Singapur zu verlagern. Viele von ihnen sind im Bereich der zellbasierten Technologien tätig – auch wegen der Entscheidung Singapurs, das erste Land zu sein, das in dieser Kategorie dereguliert."

Das soll nicht heissen, dass es nicht auch andere Länder gibt, die daran arbeiten, Talente und Investments für die Lebensmittelinnovation anzuziehen. Ive erklärt gegenüber MAG/NET: "Schweden hat Innovationen im Bereich der Nachhaltigkeit von Lebensmitteln entwickelt, Israel im Bereich der Lebensmitteltechnologie, und Thailand, Japan, Korea und andere Länder haben ebenfalls das Potenzial, sich zu starken Zentren der Lebensmittelinnovation zu entwickeln."

The Spoon, dessen Herausgeber scherzhaft damit liebäugelte, mit seiner Familie nach Singapur zu ziehen, um in der Nähe der "Zukunft des Essens" zu sein, veröffentlichte kürzlich einen Artikel mit der Überschrift: "UAE: The Next Big Food Tech Hub?"

Da Singapur schon früh so viel Aufmerksamkeit und Investments auf sich gezogen hat, könnte es auch jenseits von Lebensmitteln grosse Gewinne erzielen. Bei dem ersten marktreifen Produkt von Avant handelt es sich nämlich gar nicht um im Labor gezüchtete Meeresfrüchte, sondern um "Zellulin, den weltweit ersten zellbasierten funktionellen Proteinbestandteil für die Hautpflege". Zellulin wurde in Hongkong entwickelt, aber da globale Unternehmen für Lebensmittelinnovationen immer mehr Forschungs- und Entwicklungslabors in Singapur einrichten, könnte die nächste bahnbrechende Innovation – ob Lebensmittel oder nicht – stattdessen aus der Löwenstadt kommen.

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