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Lifestyle

Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit: "Authentisch" ist das Wort des Jahres 2023

2023 strebten wir nach Authentizität in einer Welt, die durch die digitale Innovation immer mehr verschwimmt.

Datum
Autor
Peter Firth, Gastautor
Frau schaut in eine Spiegelscherbe
Authentizität: Wahrscheinlich ist uns diese Qualität wichtiger geworden, weil wir sie seltener zu erleben glauben. © Unsplash/Vince Fleming

Es ist unmöglich, ein ganzes Jahr in einem einzigen Wort zusammenzufassen. Trotzdem versuchen es Wörterbuchverlage alle zwölf Monate von Neuem. Dazu analysieren sie, welche Begriffe wir am häufigsten nachschlagen - was in der digitalen Ära möglich ist, weil die meisten Menschen nicht mehr in dicken Wälzern, sondern online auf Wörtersuche gehen. Jetzt hat der US-Wörterbuchverlag Merriam-Webster den Begriff "authentic" (authentisch, wahrhaftig) zum Wort des Jahres 2023 gekürt. Die Zahl der Suchanfragen nach dem Begriff ist laut diesem Verlag stark gestiegen.  

Auf den ersten Blick mutet der Wörterbucheintrag zu "authentic" gewöhnlich an. Ihm fehlen die Schockqualitäten des Begriffs "permacrisis", den das britische Verlagshaus des Collins English Dictionary zum Wort des Jahres 2022 ausgerufen hatte. "Permacrisis" war nicht nur ein eingängiges neues Kofferwort, sondern auch ein nützlicher Begriff, um die Aneinanderreihung beunruhigender Weltereignisse treffend zu beschreiben. "Authentic" eignet sich auch nicht dazu, die Menschen mitzureissen - im Gegensatz zum 2021 vom Cambridge Dictionary auf den Thron gehobene "perseverance" (Beharrlichkeit, Ausdauer). Dieser Begriff brachte unser Gefühl auf den Punkt, die Coronapandemie gebeutelt, aber entschlossen überwunden zu haben. Im Vergleich dazu wirkt "authentisch" ziemlich langweilig. Bei näherer Betrachtung wird aber schnell deutlich, wieso wir uns in den letzten Monaten vermehrt Gedanken über Authentizität gemacht haben. Wahrscheinlich ist uns diese Qualität in letzter Zeit wichtiger geworden, weil wir weniger Authentizität um uns herum wahrnehmen.  

Im November 2022 hatte OpenAI, der jüngste Technologieriese, mit der Enthüllung von ChatGPT eine neue Ära in der Beziehung zwischen Mensch und Maschine eingeläutet. Seitdem setzen Schülerinnen und Schüler den Chatbot als Ghost-Writer ein, um Aufsätze für sich schreiben zu lassen. Verkaufspersonal nutzt das Tool zum Verfassen von Werbemails. Und Texterinnen und Texter aller Couleur wenden sich der Technologie zu, um Denkanstösse zu generieren und Werbetexte zu erstellen - was die Frage nach der Urheberschaft aufwirft. Derweil zeigen kuriose Erfindungen wie der Random Face Generator this-person-does-not-exist.com, der KI-generierte, frappierend echt wirkende Porträts von imaginären Menschen erstellen kann, wie leicht wir in naher Zukunft hinters Licht geführt werden können.

Wer über die nötigen Ressourcen verfügt, um authentisch zu kommunizieren, erhält nun entsprechend mehr Aufmerksamkeit. So haben die Enthüllungen in Prinz Harrys Memoiren "Spare" seine Gegnerinnen und Gegner in ihrer Kritik bestärkt. Seine Fans indes halten das Buch für ein mutiges Lebensporträt des Herzogs von Sussex. Wie viel Wert wir mittlerweile auf Authentizität legen, wird in der Kulturszene vielleicht am deutlichsten, wenn wir den unaufhaltsamen Aufstieg von Taylor Swift betrachten. Das Erfolgsrezept der von-Country-zu-Pop-Sängerin besteht darin, persönliche Erfahrungen und individuellen Kummer in einprägsamer, leicht zugänglicher Popmusik zum Ausdruck zu bringen. Durch ihr jüngstes Album "Midnights" mit der Single "Anti-Hero" exponiert sie sich aber auf eine Weise, die Swift in manchen Abschnitten auch von ihrer verletzlichsten Seite zeigt. Und Authentizität scheint anzukommen: Kein anderer Titel Swifts hielt sich bisher länger unter den Top 100.  

Auch im politischen Bereich fragen sich immer mehr Beobachterinnen und Beobachter, was überhaupt noch authentisch ist. Eine weltweite Studie der Vereinten Nationen hat ergeben, dass sich mehr als 85 Prozent der Menschen über die Auswirkungen von Online-Desinformation sorgen. Noch verbreiteter (87 Prozent) ist die Auffassung unter den Befragten, dass diese Desinformation der Politik ihres Landes bereits geschadet habe. Die UNO hat sich dazu verpflichtet, das Problem mit einer weitreichenden Initiative anzugehen. Laut Audrey Azoulay, der Generaldirektorin der UN-Kulturorganisation Unesco, bergen falsche Online-Informationen "erhebliche Risiken für den sozialen Zusammenhalt sowie für Frieden und Stabilität". Der Mangel an Authentizität könnte somit zu einer existenziellen Bedrohung für unsere Zivilisation werden.

Hoffen wir, dass wir uns 2024 nicht mehr so häufig auf die Suche nach dem Authentischen begeben müssen - weder im echten Leben noch in den Wörterbüchern.

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