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Nachhaltigkeit

"Es geht nicht darum, die Erde zu retten - sondern uns Menschen"

Die renommierte Klimawissenschaftlerin Katharine Hayhoe über die Macht ehrlicher Kommunikation und die Kraft von kollektivem Handeln - und über die Gründe, weshalb die Natur selbst viel zur Lösung der Klimakrise und des Artensterbens beiträgt.

Datum
Autor
Flurina Ammann
Katharine Hayhoe lächelt in die Kamera
Klimawissenschaftlerin Katharine Hayhoe: "Wir müssen darüber reden, was jede und jeder von uns als Individuum und als Teil einer Gruppe tun kann, um etwas zu bewirken. So beginnt der Wandel." © Artie Limmer/Texas Tech University

Wenn wir nachrechnen, wie viele Tier- und Pflanzenarten in den letzten Jahrzehnten ausgestorben sind, und wenn wir die durch den Klimawandel verursachten Naturkatastrophen aus der ganzen Welt zusammenzählen, zeigt sich ein erschreckendes Bild. Wieso tun wir nicht mehr dagegen?
Katharine Hayhoe: Lange Zeit dachten die Leute, dass der Klimawandel und das Artensterben Phänomene seien, die nur Tiere und Pflanzen betreffen oder die erst in Zukunft dringlich würden. Heute können wir die Augen aber nicht länger verschliessen – und zwar nirgends auf der Welt. Wir sehen, dass der Klimawandel extreme Wetterereignisse verstärkt, dass sie häufiger und gefährlicher werden. Vor unserer eigenen Haustür können wir auch deutlich sehen, wie sich die Biodiversität, d. h. die Artenvielfalt, verändert. Dies führt dazu, dass die meisten Menschen sich inzwischen Sorgen machen. Wenn man sie aber fragt, ob sie auch etwas gegen diese Entwicklungen unternehmen, lautet die Antwort meistens "Nein".

Wieso?
Man könnte meinen, dass ihre Angst noch nicht gross genug ist und dass es mehr Berichte über den Anstieg des Meeresspiegels oder das Aussterben der Eisbären braucht, um sie zum Handeln zu bewegen. In Wirklichkeit verhält es sich jedoch so, dass Menschen, die Angst vor etwas haben und die Ursachen nicht aktiv angehen, häufig nicht wissen, was sie tun sollen. Wie können wir das also ändern? Indem wir die Leute mit unseren Berichten nicht noch mehr verunsichern, sondern vermehrt über positive, konstruktive Lösungen informieren und zeigen, welchen Beitrag jede und jeder leisten kann.

Was sagen Sie den Leuten konkret?
Das Wirksamste, was wir als Individuen tun können ist ... nicht immer solche Individuen zu sein. Was ich meine: Wir müssen zusammenspannen, wenn wir das System verändern wollen. Woraus besteht aber ein System? Genau, aus Einzelpersonen! Man kann das System ändern, wenn man zusammenspannt. Und der erste Schritt ist so simpel, dass wir ihn nicht selten übersehen: Es geht um Kommunikation.

Frau am Gärtnern
"Wenn die Natur uns nicht tragen kann, sind wir gefährdet." © Istockphoto/SolStock

Sellen Sie sich eine lange Reihe Dominosteine vor, von denen jeder einzelne für eine von uns gewünschte Veränderung oder eine von uns angestrebte Lösung steht. Einen Dominostein nach dem anderen anzustossen, kostet viel Zeit und Aufwand. Ausser, wenn der erste Dominostein die Kommunikation ist. Wenn man diesen Stein anstösst, setzt er drei, vier, fünf weitere in Bewegung. So mächtig ist Kommunikation.

Es gibt keine Patentlösung gegen die Klimakrise und das Artensterben; vielmehr gibt es viele Lösungsansätze und wir sind auf jeden einzelnen angewiesen. Einen ersten Schritt können wir jedoch alle tun: Wir können uns darüber austauschen, weshalb diese Fragen für mich und für Sie hier und heute wichtig sind. Und darüber, was jede und jeder von uns als Individuum und als Teil einer Gruppe tun kann, um etwas zu bewirken. So beginnt der Wandel.

Anscheinend wird das Ausmass des Klimawandels und seiner Folgen der Öffentlichkeit endlich bewusst. Beim Artensterben ist dies kaum der Fall. Täusche ich mich?
Ich glaube, Sie haben Recht. Leider sind wir uns oft nicht bewusst, dass die Natur die Grundlage unserer ganzen Existenz ist. Ein Beispiel: Winziges Phytoplankton im Meer generiert über die Hälfte des Sauerstoffs, den wir einatmen. Die Erwärmung der Meere kann das Wachstum und die Produktivität dieses Planktons jedoch schwer beeinträchtigen. Jede Veränderung der natürlichen Prozesse von pflanzlichem Plankton kann zu einem Dominoeffekt bei anderen Organismen führen und die Dynamik des gesamten Ökosystems der Meere potenziell beeinflussen. Der Schutz und Erhalt dieser Mikroorganismen ist daher für den Schutz des Lebens auf unserem Planeten ganz zentral.

Wir sollten nicht nur überlegen, woher die Luft kommt, die wir atmen. Wir sollten uns auch folgende Fragen stellen: Woher beziehen wir unser Trinkwasser? Auch unser Trinkwasser stammt aus der Natur und wird von ihr gefiltert. Woher kommen unsere Nahrungsmittel? Wir züchten sie und nutzen dabei den Boden und das Wasser aus der Natur. Wenn die Natur uns nicht tragen kann, sind wir gefährdet.

Ein Fluss in einem Wald
Wir sollten nicht nur überlegen, woher die Luft kommt, die wir atmen. Wir sollten uns auch folgende Fragen stellen: Woher beziehen wir unser Trinkwasser? © Istockphoto/Pollyana Ventura

Was passiert also im schlimmsten Fall, wenn wir das Artensterben nicht aufhalten können?
Der Klimawandel bedroht nicht die Menschheit an und für sich, sondern die Gesellschaft. Unsere ganze Zivilisation beruht auf der Hypothese, dass das Klima stabil ist. Das Artensterben bedroht dagegen unsere nackte Existenz. Die Möglichkeit, Luft zu atmen, sauberes Wasser zu trinken, Nahrungsmittel anzubauen. Das Leben auf unserem Planeten hat fünf Phasen mit massenhaftem Artensterben überstanden. Allerdings sah das Leben danach jeweils ganz anders aus.

Wir müssen uns eingestehen, dass wir die genannten Krisen nicht isoliert betrachten können: Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Zudem haben sie auch einen Zusammenhang mit Problemen wie Ungleichheit und Gesundheit. Der Klimawandel wirkt als "Bedrohungsmultiplikator" – er verschärft Probleme wie Armut, Krankheit, Unterversorgung mit Nahrungsmitteln oder sauberem Wasser und potenziert sie. Andererseits können sich Lösungen für Klimaprobleme auch positiv auf die Gesundheit und die Gleichstellung in der Bevölkerung auswirken.

Können Sie dies mit einem Beispiel belegen? 
In zahlreichen Grossstädten kann die Temperatur in Quartieren mit einem geringen Durchschnittseinkommen während einer Hitzewelle bis zu sieben Grad Celsius höher liegen als in Quartieren, die von Wohlhabenden bewohnt werden. Wieso? In ärmeren Quartieren gibt es weniger Grünflächen.

Meeresplankton unter dem Mikroskop
Alles ist verbunden: Winziges Phytoplankton im Meer generiert über die Hälfte des Sauerstoffs, den wir einatmen. © Istockphoto/tonaquatic

Eine der naheliegendsten Lösungen für dieses Problem liegt darin, diese Quartiere zu begrünen, Parks und Grasflächen anzulegen und Bäume zu pflanzen. Mit diesen Massnahmen sinkt die Temperatur umgehend, sodass die Bewohnerinnen und Bewohner weniger Geld für Klimaanlagen ausgeben müssen (sofern solche überhaupt vorhanden sind) und extreme Hitzeperioden besser überstehen. Pflanzen wirken aber auch als Luftfilter – und in armen Quartieren ist die Luftverschmutzung tendenziell hoch. Ausserdem liegen arme Quartiere nicht selten in überschwemmungsgefährdeten Gebieten. Begrünte Flächen sorgen dafür, dass Wasser versickern kann, und bieten so zusätzlich Hochwasserschutz. Wer Zeit in der Natur verbringt, stärkt auch seine geistige und körperliche Gesundheit. Und ... Bäume und andere Pflanzen binden CO2, das heisst, es landet nicht in der Atmosphäre.

Wir haben somit eine Lösung gefunden, welche die Auswirkungen des Klimawandels mindert und die Resilienz der Bewohnerinnen und Bewohner fördert, ihre Energiekosten und ihren Hitzestress sowie das Hochwasserrisiko senkt, zu ihrem geistigen und körperlichen Wohlbefinden beiträgt, CO2 bindet und den Wert der Liegenschaften in diesem Quartier erhöht.

Sie sind wissenschaftliche Leiterin bei The Nature Conservancy. Wofür steht Ihre Organisation?
Wenn es darum geht, die Ausbreitung der Klimakrise und des Artensterbens zu verhindern, gibt es nicht DIE EINE Lösung. Es gibt jedoch zahlreiche kleinere Ansätze, die zusammen eine Lösung ergeben. Bei The Nature Conservancy haben wir durch wissenschaftliche Arbeit herausgefunden, dass die Natur einen grossen Beitrag zu dieser Lösung leistet. Die Renaturierung, der Schutz und die Pflege der Natur sowie eine regenerative, klimafreundliche Landwirtschaft und die Einrichtung grüner Infrastrukturen in den Städten – all dies sind naturbezogene Lösungen, die CO2 binden können, sodass es wieder in die Böden und Ökosysteme gelangt. Zugleich verbessern diese Lösungen unsere Gesundheit und Lebensqualität. Unsere Tätigkeit bei The Nature Conservancy besteht also darin, die Natur in die Diskussionen einzubringen.

Was können Sie uns zu Ihrer Zusammenarbeit mit LGT Venture Philanthropy erzählen?
Unser grösstes gemeinsames Projekt ist die Nature for Water Facility. Sie bietet Informationen zu den besten naturbasierten Lösungen zum Schutz und schonenden Umgang mit Süsswassersystemen. Indem wir Menschen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Kontakt bringen, die bereits an Dutzenden von Orten auf der ganzen Welt praktische Massnahmen umgesetzt haben, können wir Lösungen viel schneller vorantreiben. Gehen wir beispielsweise davon aus, dass Sie ein Problem haben – beispielsweise begrenzte Wasserressourcen oder Wasserverschmutzung –, aber keine Fachfrau oder kein Fachmann auf diesem Gebiet sind. Was können Sie tun? Als Einzelperson haben Sie möglicherweise keine Ahnung, wo Sie anfangen sollten. Wenn Sie sich aber an diese Initiative wenden, hilft man Ihnen, die beste Lösung für Ihr spezifisches Problem zu finden. Wir sind eine Art "Wasserklinik".

Vor rund fünf Jahren haben Sie einen TED-Talk gehalten, der viral ging. Damals sagten Sie, dass die Bekämpfung des Klimawandels zu langsam vorangehe. Wie sehen Sie die Lage heute?
Es gibt keinen magischen Grenzwert für die Klimakrise. Im Rahmen des Pariser Klimaschutzabkommens hat man sich weltweit darauf geeinigt, die Erderwärmung auf weniger als 2 Grad Celsius zu beschränken. In wissenschaftlicher Hinsicht lautet die Devise allerdings "je weniger, desto besser". Anderthalb Grad sind besser als 1,6 Grad und 1,6 Grad sind besser als 1,7 Grad. Jede einzelne Massnahme zählt, auch wenn sie noch so bescheiden ist. Je mehr wir heute tun, desto besser wird unsere Zukunft sein.

Heute tun wir mehr als vor fünf Jahren. Aber noch immer schöpfen wir nicht alle Möglichkeiten aus, und das wird zusätzlichen Schaden anrichten. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir so schnell wie möglich so viel wie möglich tun müssen, vorausgesetzt, wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir es mit zahlreichen Krisen zu tun haben. Ungleichheit, Umweltverschmutzung, Klimawandel, Artensterben – wir müssen uns genügend Zeit nehmen, um sicherzustellen, dass unsere Lösungen möglichst viele dieser Probleme angehen. Sobald aber eine tragbare Lösung vorliegt, müssen wir sie so rasch wie möglich skalieren. Wir müssen diese Win-Win-Win-Win-Lösungen finden und auf breiter Front umsetzen: Es geht nicht um den Planeten Erde an und für sich, sondern um uns Menschen und alle anderen Lebewesen, die unseren einzigartigen Lebensraum bevölkern und von denen unser Leben abhängt.

Über Prof. Katharine Hayhoe

Im Zentrum der Forschungsarbeit der Klimawissenschaftlerin Katharine Hayhoe stehen die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschen und unseren Planeten. Als wissenschaftliche Leiterin von The Nature Conservancy koordiniert sie die wissenschaftlichen Bestrebungen dieser Organisation. Ferner hat sie eine Ausserordentliche Paul Whitfield Horn-Professur sowie den Lehrstuhl für Öffentliche Ordnung und Öffentliches Recht innerhalb des Programms für Öffentliche Verwaltung an der Fakultät für Politikwissenschaften der Texas Tech University inne.

Katharine Hayhoe hat ihr Studium an der Universität Toronto mit einem Bachelor of Science in Physik abgeschlossen, an der University of Illinois in Atmosphärenwissenschaften doktoriert und zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen für ihre Arbeit erhalten, unter anderem vier Ehrendoktortitel und den Umweltpreis "Champion of the Earth" der Vereinten Nationen.

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