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Nachhaltigkeit

Unternehmen sinnvoll führen: Let My People Go Surfing

Patagonia-Gründer Yvon Chouinards Autobiografie "Let My People Go Surfing" nähert sich ihrem zwanzigsten Geburtstag, wirkt aber immer noch revolutionär - ein beunruhigendes Zeichen. 
 

Datum
Autor
Peter Firth, Gastautor
Lesezeit
10 Minuten
Draussen zuhause: Gründer und CEO von Patagonia Yvon Chouinard am Strand in Ventura, Kalifornien.
Draussen zuhause: Gründer und CEO von Patagonia Yvon Chouinard am Strand in Ventura, Kalifornien. © Ben Baker/Redux/laif

Diesen Monat hat die Outdoor-Bekleidungsmarke Patagonia eine neue Kampagne gestartet - ihr Ziel: Die Abschaffung der Fischerei mit Grundschleppnetzen. Bei dieser Praxis wird ein beschwertes Netz über den Meeresboden gezogen. Das mag harmlos klingen, ist es jedoch nicht: Das Netz zerstört ganze Ökosysteme, indem es Pflanzen, Tiere und den Meeresboden aufwirbelt. Patagonia versucht, das Bewusstsein für die schädlichen Auswirkungen der Grundschleppnetz-Fischerei zu schärfen. Die Initiative umfasst eine Reihe von Events auf der ganzen Welt, einige Dokumentarfilme und eine Petition für ein sofortiges Verbot dieser Praxis.

Ein Blick unter den Meeresspiegel
Buntes Leben unter Wasser: Grundschleppnetze zerstören ganze Ökosysteme. © Patagonia/David Doubilet

Ob der Plan erfolgreich ist, bleibt abzuwarten. Aber diese Art von Kampagne ist für Patagonia nicht ungewöhnlich: Im Laufe seiner fünfzigjährigen Geschichte hat sich das Unternehmen mit dem Graswurzel-Aktivismus verbündet und eine unkonventionelle, wachstumsfeindliche Interpretation des Kapitalismus entwickelt. Im Jahr 1985 führte Patagonia eine "Erdsteuer" ein und verpflichtete sich, 1% seines jährlichen Umsatzes für den Erhalt der Umwelt einzusetzen - eine Massnahme, dank der USD 89 Mio. in solche Initiativen flossen.

Patagonias Werbung "Kaufe diese Jacke nicht"
Kaufe diese Jacke nicht: So geht ökologische Werbung am Black Friday. © Patagonia

Im Jahr 2011 schaltete das Unternehmen an Black Friday eine Anzeige in der New York Times, in der es seine Kundinnen und Kunden aufforderte, keine neuen Kleider zu kaufen - sondern die eigenen zu flicken. Seitdem ist "Don't Buy This Jacket" zu einem Lieblingsbeispiel in Marketingkursen geworden.

Die grösste Schlagzeile kam jedoch letztes Jahr, als der Gründer von Patagonia, der bergsteigende, schmiedende Milliardär Yvon Chouinard, das Unternehmen an eine Stiftung und eine gemeinnützige Organisation übertrug, welche die Einnahmen automatisch in Initiativen zur Erhaltung des Planeten investierte. "Von nun an ist die Erde unsere einzige Aktionärin", verkündete Patagonia. "Alle Gewinne werden auf Dauer in unsere Mission zur Rettung des Planeten fliessen."

Patagonia bezeichnet sich nicht als nachhaltig

Die Mode- und Bekleidungsindustrie ist die zweitschädlichste Branche der Welt, nur der Öl- und Gassektor richten noch mehr ökologischen Schaden an. Die Geschichte von Patagonia ist eine Anomalie. Wie kann ein Unternehmen, das mit der Herstellung und dem Verkauf von Millionen von Kleidungsstücken jedes Jahr einen Umsatz von über USD 1 Milliarde erzielt, seine Nachhaltigkeit und seine ökologischen Tugenden anpreisen? Die Antwort: Das tut es gar nicht. Auf der COP26 im Jahr 2021 gab das Unternehmen bekannt, dass es sich nicht länger als "nachhaltige Marke" bezeichnen möchte und räumte ein, dass es trotz seines Engagements für die Verbesserung der Umwelt immer noch Teil des Problems ist.

Fische im Meer
Symphonie in blau: Patagonia hat seit Unternehmensbeginn Partei bezogen - auch wenn die Kleidungsindustrie zu den schädlichsten gehört. © Patagonia/Ryan Foley

Nichtsdestotrotz hat Patagonia einen Fahrplan (oder besser gesagt, eine Orientierungshilfe) für die Firmen der Bekleidungsindustrie geschaffen. Und einen grossen Teil seines Pioniergeistes verdankt die Firma dem Einfluss von Chouinard. Während Patagonia sein erstes halbes Jahrhundert feiert, steuert die Autobiografie ihres Gründers "Let My People Go Surfing: The Education of a Reluctant Businessman" auf ihren zwanzigsten Geburtstag zu.

Ein moderner Klassiker, ein philosophisches Handbuch

"Let My People Go Surfing", das ursprünglich als philosophisches Handbuch für Mitarbeitende gedacht war, hat sich zu einem modernen Klassiker entwickelt. Liest man es heute, stellt man erstaunt fest, dass seine Lektionen darüber, wie man ein Unternehmen mit Sinn führt, auch im Jahr 2023 noch relevant sind.

Doch wer ist Chouinard überhaupt? Früher ein misanthropischer Jugendlicher, der sich in der Wildnis Kaliforniens zuhause fühlte. Der Dokumentarfilm über seine Erfahrungen als Schmied, der von Hand Kletterausrüstungen herstellte, um sie an andere Outdoor-Enthusiasten zu verkaufen, bietet Einblick in die Philosophie, die sich durch das Buch zieht: eine Besessenheit mit Design einerseits, aber auch ein Entsetzen über den Umgang der Menschheit mit der Umwelt.

Yvon Chouillard am Pult
Fühlte sich in der Wildnis Kaliforniens zuhause: Yvon Chouinard an seinem Schreibtisch. © Patagonia/Campbell Brewer

Chouinard hat einen unorthodoxen, eigenwilligen Ansatz gewählt, um Patagonia zu leiten. Als Schmied war er damit beschäftigt, seine Bergsteigerausrüstung durch einen Prozess der Vereinfachung und Subtraktion zu verbessern, statt nach Komplexität zu streben. Als Patagonia florierte, übernahm das Unternehmen diesen Ansatz nicht nur für die Kleidung, die es herstellte, sondern für alle Aspekte seiner Tätigkeit - vom Produktdesign bis zum Marketing.

In dem Buch zitiert er Antoine de Saint-Exupéry, der französische Autor, Philosoph und Flieger, als eine wichtige Inspiration: "Vollkommenheit ist nicht erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern dann, wenn es nichts mehr wegzunehmen gibt. Wenn ein Körper auf seine Nacktheit entblösst ist."

Geistesblitze kommen nicht im Büro

Der von Chouinard beschriebene Managementstil enthält auch Lektionen für heutige Unternehmerinnen und Unternehmer. Wie der Titel schon andeutet, war Patagonia ein Pionier in Sachen Management. Die Firma ermutigte Mitarbeitende, so viel Zeit wie möglich in der freien Natur zu verbringen. Andauernde Überarbeitung oder Kampf um die Steigerung des Gewinns? Nicht hier: Wichtiger ist die Freiheit, sich den Nachmittag freizunehmen, wenn die Wellen gerade gut sind.

Chouinards Zuhause am Meer in Kalifornien
Bodenständig: Kajaks beim Haus des Outdoor-Enthusiasten und Umweltschützers Chouinard in Ventura, Kalifornien. © Lucia Griggi/Redux/laif

Chouinard selbst behauptet, dass ihm die besten Ideen für Strategie und Produktdesign immer dann kommen, wenn er eine Felswand erklimmt, auf Skiern einen Berg hinunterfährt oder Fliegenfischen geht. Selten hat er solche Geistesblitze, wenn er hinter einem Schreibtisch sitzt.

Das Erstaunlichste an dem Buch ist der Überblick über die Umweltprinzipien von Patagonia, das letzte und längste Kapitel. Obwohl es bereits 2005 veröffentlicht wurde, ist das Kapitel nach wie vor ein Leitfaden dafür, wie man die Fangemeinde einer Marke, die Möglichkeiten des Geschichtenerzählens - und sogar Berührungspunkte wie Einzelhandel und Verlagswesen - nutzen kann, um Veränderungen zu bewirken.

Es ist ermutigend und faszinierend zu erfahren, wie Chouinard den Einfluss seines Unternehmens nutzt, um Ökosysteme zu erhalten oder Umweltdebatten in den Vordergrund zu rücken. Gleichzeitig stimmt es traurig, dass dieser Ansatz immer noch so neu wirkt. Im Zeitalter des Greenwashing und der übertriebenen Umweltversprechen ist "Let My People Go Surfing" bahnbrechend. Das sollte es 2023 nicht mehr sein.

Welle im Meer
© Patagonia/Morgan Maassen
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