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Nachhaltigkeit

Moderne Sklaverei: Offensichtlich unsichtbar

Moderne Sklaverei ist verboten. Und dennoch Teil der heutigen Wirtschaft. In komplexen Lieferketten wird das Problem oft übersehen - so auch in der englischen Baubranche.

Moderne Sklaverei gibt es in vielen Formen: Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, häusliche Arbeit. Die Baubranche ist besonders betroffen. Doch Finanzinstitute sowie Anlegerinnen und Anleger können zur Bekämpfung beitragen. © Shutterstock/ivi.photo93

Der Begriff "moderne Sklaverei" verdeutlicht, dass es trotz gesetzlicher Verbote auch heute noch in der ganzen Welt gravierende Formen von Ausbeutung gibt - oft übersehen wir sie selbst dann, wenn sie vor unseren Augen stattfindet.

In vielen Fällen geraten Menschen durch wirtschaftliche Not, Zwang oder fehlende Alternativen in eine Falle. Moderne Sklaverei steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Regeln einer globalisierten, geregelten Welt. Ihre Bekämpfung erfordert Wachsamkeit, Rechenschaftspflicht und gemeinsames Handeln über Branchengrenzen hinaus.

In den letzten Jahren ist die Bauindustrie Grossbritanniens auf den Prüfstand gekommen. "In der Branche werden oft Unteraufträge in mehreren Stufen vergeben", so Siobhan Archer, Global Stewardship Lead bei LGT Wealth Management in England. "Dadurch sind die Verantwortlichkeiten oft unklar, und ausbeuterische Praktiken werden leichter übersehen."

Glänzende Nägel, prekäre Umstände: Nicht nur die Baustellen, auch die Nagelstudios können zu Orten moderner Sklaverei werden. © Shutterstock/ivi.photo93

Die britische Baubranche: Eine Industrie auf dem Prüfstand

Die Einführung des Modern Slavery Act im Jahr 2015 war ein bahnbrechender Schritt, mit dem Grossbritannien zu einer der Nationen wurde, welche die Ausbeutung von Arbeitskräften am umfassendsten bekämpfen. Allerdings wurde dieses Gesetz nicht immer durch- und umgesetzt.

Siobhan Archer, Global Stewardship Lead der LGT
Siobhan Archer, Global Stewardship Lead der LGT

Seit es in Kraft getreten ist, haben Ereignisse wie der Brexit, die Covid-19-Pandemie und die Lebenshaltungskostenkrise ein Umfeld geschaffen, in dem ausbeuterische Praktiken fortbestehen können. Ein Beispiel: Das Ende der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union hat in den von Niedriglohn und Saisonarbeit abhängigen Sektoren wie der Baubranche den Arbeitskräftemangel verstärkt. Firmen sehen sich gezwungen, in weiter entfernten Ländern nach Arbeitskräften zu suchen - doch die erforderlichen Schutzsysteme fehlen oft.

"Diese Arbeitskräfte müssen für den Zugang zu Arbeitsplätzen in der UK oft hohe Vorlaufkosten aufbringen, wie z.B. Gebühren für Vermittlung, Visum und Reise. Das macht sie abhängiger - und anfälliger für Ausbeutung", erklärt Archer. Sie organisierte 2024 einen Roundtable-Event zum Thema moderne Sklaverei im Baugewerbe - gemeinsam mit dem Cabinet Office, der zentralen Behörde der britischen Regierung, CCLA Investment Management und der Supply Chain Sustainability School in London.

Das Ende der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union hat den Arbeitskräftemangel zugespitzt - vor allem in den von Niedriglohn und Saisonarbeit abhängigen Sektoren wie der Baubranche. Arbeitsgeber sehen sich gezwungen, in weiter entfernten Ländern nach Arbeitskräften zu suchen - doch die erforderlichen Schutzsysteme fehlen oft. © Shutterstock/Danny GMart

In einem kürzlich bekannt gewordenen grossen Fall, der durch eine Untersuchung der Metropolitan Police gestoppt werden konnte, hatte ein verbrecherisches Kartell Millionen von Pfund verdient, indem es bis zu 500 Opfer in grosse gewerbliche und private Bauprojekte in London und Südostengland einschleuste. Die Opfer erhielten für ihre Arbeit nur 18 Pfund pro Tag - und manchmal gar keinen Lohn. Sie wurden in unhygienischen Gebäuden eingepfercht. Zu essen gab es ranziges Fleisch.

33 ahnungslose Unternehmen - die Ermittler glauben, dass viel mehr Firmen von der Bande getäuscht wurden - zahlten Millionen von Pfund auf Scheinkonten der Gruppe. Zu den Firmen gehörten sowohl Bauunternehmen als auch Agenturen und Anbieter von Lohnabrechnungen. "Das Vereinigte Königreich mag zwar auf dem Papier über strenge Gesetze verfügen. Doch wegen limitierter Ressourcen und begrenzter proaktiver Kontrollen kann der Missbrauch in diesen Randbereichen noch immer gedeihen", so Archer.

Vermögensverwalter sowie Anlegerinnen und Anleger können ihren Teil dazu beitragen, moderne Sklaverei zu bekämpfen. © Shutterstock/yuttana Contributor Studio

In einer zersplitterten Branche mit oft nur vorübergehend angestellten Mitarbeitenden können kleinere Subunternehmen selbst dann unter dem Radar bleiben, wenn sie von Generalunternehmen mit guten Vorsätzen beauftragt werden. "Die Branche zählt sowohl viele gering qualifizierte und schlecht bezahlte Tätigkeiten als auch eine grosse Anzahl Wanderarbeitender - einige davon mit eingeschränktem Recht auf Arbeit", sagte Dr. Martin Buttle, Leiter des Bereichs "Better Work" beim CCLA, im Anschluss an die Roundtable-Veranstaltung. "Ausserdem ist die Vergabe von Unteraufträgen weit verbreitet. Dass dadurch während der Bauzeit viele verschiedene Beschäftigte die Baustelle immer wieder wechseln, erschwert die Überwachung zusätzlich." 

Von Compliance zu Verantwortung: Wie sich Unternehmen und Investoren engagieren

Die Bauunternehmen sind selbst dafür verantwortlich, die Leiden der Arbeiterinnen und Arbeiter zu beenden - egal wo sie in der Lieferkette stehen. Führende britische Bauunternehmen wie Kier, Mace oder Balfour Beatty haben den Einsatz gegen moderne Sklaverei durch ihre Teilnahme am letztjährigen Roundtable-Event unterstützt. Auch wenn diese Firmen weniger als andere im Licht der Öffentlichkeit stehen, möchten sie auf die Brisanz des Problems und die Notwendigkeit einer stärkeren Sensibilisierung aufmerksam machen. 

Die Einführung des Modern Slavery Act im Jahr 2015 war ein bahnbrechender Schritt. © www.legislation.gov.uk

Ein weiteres Beispiel ist Marshalls. Das britische Unternehmen für Baumaterialien und Infrastruktur hat mit der Anti-Verbrechens-Organisation Crimestoppers die Kampagne "#slaveryonyourdoorstep" gestartet. Sie bieten Schulungen für Fahrer an, die mit Dashcams und Meldegeräten ausgestattet sind. In einem Fall konnte die Polizei bereits einen Tag nach dem Start des Programms einen Verdachtsfall von Sklaverei aufklären. Marshalls verweist auch direkt an den Baustellen auf ihre Whistleblowing-Hotline - so an einigen Firmenfahrzeugen und Schildern.

Solche Programme sowie branchenweite Initiativen im Baugewerbe gibt es nicht nur wegen ethischer Bedenken. Auch Investorinnen und Investoren fordern Verbesserungen. "Moderne Sklaverei ist ein moralischer Skandal und ein Anlagerisiko (…) Vermögensverwalter können ihren Teil dazu beitragen, dieses Problem zu bekämpfen", erklärt Buttle Anfang 2025 in einem Gastbeitrag für das Portal "Professional Wealth Management".

In vielen Fällen geraten Menschen durch wirtschaftliche Not, Zwang oder fehlende Alternativen in eine Falle. © KEYSTONE/CARO/Oberhäuser

Buttle stellt jedoch auch fest, dass fehlende gesetzliche Regelungen Anlegerinnen und Anlegern keine ausreichenden Anreize dafür bieten, Transparenz in Bezug auf die Risiken der modernen Sklaverei zu fordern. So sind beispielsweise Anlageportfolios nicht in den britischen Gesetzen zur modernen Sklaverei oder von der EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflicht bei der Nachhaltigkeitsprüfung von Unternehmen erfasst. Im März 2025 diskutierte das britische House of Lords einen Bericht, der beklagt, dass das Vereinigte Königreich selbst ein Jahrzehnt nach Verabschiedung seines bahnbrechenden Antisklaverei-Gesetzes hinter seinen Verpflichtungen zurückbleibt.

Um diese Lücke zu schliessen, hat die CCLA 2019 die Initiative "Find it, Fix it, Prevent it" ins Leben gerufen. Dieser Koalition gehören inzwischen Investoren an, die mehr als CHF 16 Billionen verwalten. Indem sie sich sowohl auf Unternehmensebene als auch öffentlich einsetzt und bessere Daten zur modernen Sklaverei liefert, hilft sie Unternehmen dabei, ihre Lieferketten zu verbessern. Anlegenden hilft die Modern Slavery Benchmark, die die CCLA seit 2023 jährlich veröffentlicht, bei ihren Anlageentscheidungen. Dieser Bericht stuft die grössten börsennotierten Unternehmen des Vereinigten Königreichs nach ihrem Beitrag zur Bekämpfung der modernen Sklaverei in ihren Betrieben und Lieferketten ein.

Finance Against Slavery and Trafficking (FAST)

Die von der Regierung Liechtenstein lancierte Finance Against Slavery and Trafficking (FAST) Initiative engagiert sich für einen verantwortungsvollen Finanzsektor, der massgeblich dazu beiträgt, Sklaverei und Menschenhandel bis 2030 weltweit zu beseitigen. LGT Private Banking unterstützt die Initiative bereits seit ihrer Lancierung 2018.

Missstände zu erkennen, ist ein wichtiger Anfang. Bereits der erste Bericht zeigte, dass mehr als ein Viertel der Unternehmen in ihren Lieferketten Fälle von moderner Sklaverei feststellten. Die Entwicklung war zuweilen frustrierend - vor allem im Baugewerbe, das in der Benchmark-Scorecard auf den unteren Rängen rangiert. "Auch wenn Unternehmen sich an das Gesetz hielten, gingen sie nicht aktiv gegen die Ausbeutung in ihren Firmen und insbesondere in ihren Lieferketten vor", sagte die unabhängige britische Anti-Sklaverei-Beauftragte und frühere Chief Constable der Thames Valley Police Dame Sara Thornton.

Da es tausende Opfer betreffe, betonte Buttle in PWM, dass die Unternehmen unabhängig von den aktuellen gesetzlichen Regelungen zunehmend gezwungen seien, Massnahmen zu ergreifen. "Wenn sie das nicht tun, müssen sie sich den kritischen Fragen der Investorinnen und Investoren stellen", so der Fachmann für "Better Work". "Wenn sie hingegen etwas tun, beweisen sie Investorinnen und Investoren, dass sie ihre Sorgfaltspflicht ernst nehmen und sich um Nachhaltigkeit und soziale Belange kümmern."

Der Autor
Simon Usborne, Gastautor

Simon Usborne ist freiberuflicher Feuilletonist, Redakteur und Journalismusdozent in London, wo er unter anderem für die Sunday Times, die Financial Times und The Guardian schreibt.

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