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Finanzwissen

Claudia Goldin: eine interdisziplinÀre Detektivin

Die fĂŒr ihre Arbeiten zur LohnlĂŒcke zwischen MĂ€nnern und Frauen bekannte NobelpreistrĂ€gerin nutzt wirtschafts- und geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse, um die Gegenwart mithilfe der Vergangenheit zu entschlĂŒsseln. 

Datum
Autor
Wendy Cooper, Gastautorin
Lesezeit
4 Minuten
Eine Frau mit Brille und Unterlagen spricht vor einer Wand mit der Aufschrift Harvard University und dem Logo.
Die Harvard-Professorin Claudia Goldin wurde 2023 mit dem Nobelpreis fĂŒr Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, weil sie "unser VerstĂ€ndnis fĂŒr die Leistung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verbessert" hat. © Stephanie Mitchell/Harvard University

Claudia Goldins Traumberuf? Detektivin.

Als Kind wollte sie unbedingt ArchĂ€ologin werden, um die Geheimnisse der Mumien im American Museum of Natural History in ihrer Heimatstadt New York zu entschlĂŒsseln. Auf dem Gymnasium erweiterte sich ihr Interessenspektrum auf Biowissenschaften, weil "mikroskopisch kleine Mumien grössere Herausforderungen darstellen und wichtigere Geheimnisse bergen."

Kurz nachdem sie sich an der Cornell University eingeschrieben hatte, um Mikrobiologie zu studieren, stellte sie fest, dass es auch noch andere FĂ€cher gab - Geisteswissenschaften, Geschichte, Sozialwissenschaften -, "ĂŒber die ich nur wenig wusste". So kam es, dass sie einen Bachelorabschluss in Wirtschaftswissenschaften erlangte. In einem Aufbaustudium an der University of Chicago wurde ihr Interessengebiet um Wirtschaftsgeschichte erweitert, und ihre Dissertation befasste sich mit der Sklaverei in den StĂ€dten der amerikanischen SĂŒdstaaten vor dem BĂŒrgerkrieg.

Die sich wandelnde Rolle der Frau in der Wirtschaft - eine symbolische Karriere

Heute ist Goldin international anerkannt fĂŒr ihre interdisziplinĂ€re Forschung zu dem, was sie als "langfristige Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung" bezeichnet, insbesondere zur sich wandelnden Rolle der Frau in der Wirtschaft. Ihre eigene Karriere spiegelt diese Entwicklung wider.

Nach LehrtĂ€tigkeiten an der Princeton University und anderen renommierten US-UniversitĂ€ten wurde sie 1990 als erste Frau an die WirtschaftsfakultĂ€t der Harvard University berufen, wo sie den Henry Lee Lehrstuhl fĂŒr Wirtschaftswissenschaften innehat. Ab 2017 war sie Direktorin des Programms Development of the American Economy (DAE) am National Bureau of Economic Research (NBER), eine Position, die sie 28 Jahre lang innehatte. 

Eine Frau in Abendgarderobe nimmt an einem königlichen Hof, umringt von Menschen, einen Orden von einem Mann entgegen.
Claudia Goldin, hier bei der Nobelpreisverleihung 2023, ist nach Elinor Ostrom 2009 erst die zweite Frau, die den renommierten Nobelpreis fĂŒr Wirtschaftswissenschaften erhĂ€lt. © Keystone/AP TT/Christine Olsson

Von 1984 bis 1988 war sie Herausgeberin des Journal of Economic History, eine Aufgabe, durch die sie zu einer versierten Autorin wurde. Zu ihren BĂŒchern gehören das wegweisende "Understanding the Gender Gap: an Economic History of American Women" und (aus jĂŒngerer Zeit) "Career & Family: Women's Century-Long Journey towards Equity", das in 15 Sprachen ĂŒbersetzt wurde.

Goldin erhielt zahlreiche renommierte akademische Auszeichnungen. So 2009 den Mincer Award der Society of Labor Economists fĂŒr ihr Lebenswerk auf dem Gebiet der Arbeitsökonomie und 2016 den IZA Prize in Labor Economics. Zuletzt wurde sie 2023 mit dem Nobel-GedĂ€chtnispreis fĂŒr Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, weil sie "unser VerstĂ€ndnis fĂŒr die Leistung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verbessert hat". 

Diese Auszeichnung bezieht sich ausdrĂŒcklich auf die bahnbrechenden und höchst einflussreichen Arbeiten von Claudia Goldin zur Lage der Frauen in der US-Wirtschaft.

Goldin erkannte die Rolle der Technologie fĂŒr den Wandel gesellschaftlicher Einstellungen.

In jahrelanger akribischer Archivrecherche hat sie eine FĂŒlle von Daten zusammengetragen, die sie mit forensischer Detailgenauigkeit auswertet. Dabei kombiniert sie historische und wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse.

Als sie untersuchte, warum die wirtschaftliche Beteiligung von Frauen mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert abnahm, mit dem Aufschwung des Dienstleistungssektors im 20. Jahrhundert aber wieder zunahm, wurde ihr der entscheidende Anteil der gesellschaftlichen Einstellungen an dieser Entwicklung rasch bewusst. Ihr wurde ebenso bewusst, welch bedeutende Rolle der Technologie zukommt, wenn es darum geht, diese Einstellungen zu verĂ€ndern. 

Eine Wissenschaftlerin beim Mikroskopieren
Claudia Goldin beschrieb die "stille Revolution" in der Berufswahl von Frauen in den 1960er und 1970er Jahren, insbesondere die Wahl von MINT-FÀchern als Vorbereitung auf die UniversitÀt. © istock/sturti

"Historisch gesehen war Fabrikarbeit anstrengender als BĂŒroarbeit", sagte sie im Dezember 2023 vor dem Nobelpreis-Komitee in Stockholm. Und in zahlreichen LĂ€ndern wie etwa Indien "wird ein Mann, der seine Ehefrau in 'gefĂ€hrlichen Bereichen' arbeiten lĂ€sst, sozial als faul und trĂ€ge abgestraft." Die Stigmatisierung nehme jedoch ab, wenn die Arbeit der Frauen weniger anstrengend sei und von besser ausgebildeten Frauen verrichtet werde.

Goldin beschrieb auch die "stille Revolution" bei der Berufswahl von Frauen in den 1960er und 1970er Jahren, insbesondere die Wahl von sogenannten MINT-FÀchern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, als Vorbereitung auf die UniversitÀt, was erklÀrt, warum heute die Mehrheit der Studierenden (nicht nur in den USA, sondern bis 2022 in allen OECD-LÀndern) Frauen sind. Sie hat auch die revolutionÀren Auswirkungen der Antibabypille auf die Karriere- und Heiratsentscheidungen von Frauen beleuchtet. Dank der Reproduktionsfreiheit durch die Pille erfolgten die ersten Eheschliessungen im Leben der US-amerikanischen Frauen ab 1970 spÀter. Ab 1980 stiegen auch die relativen Löhne der Frauen.

Real existiert die LohnlĂŒcke weiter

Wie Claudia Goldin in ihrem Nobelpreis-Vortrag "An Evolving Economic Force" allerdings ebenfalls anmerkt, sind Frauen trotz des anhaltenden Strukturwandels im globalen Arbeitsmarkt nach wie vor stark unterreprÀsentiert. Diejenigen Frauen, die arbeiten, verdienen auch heute noch weniger als MÀnner.

Einen Hinweis auf dieses PhĂ€nomen hat Goldin in einem etwas ĂŒberraschenden Ergebnis gefunden: Trotz der gestiegenen Bildungs- und Wirtschaftsleistung von Frauen in den letzten 50 Jahren hinken die Einkommen von Hochschulabsolventinnen in den USA im Vergleich zu denen der MĂ€nner besonders stark hinterher. Grund dafĂŒr ist ihrer Meinung nach die Art der Arbeit von Frauen, die wiederum ein Spiegelbild ihrer Rolle im Haushalt ist, wo Frauen immer noch mehr hĂ€usliche Pflichten ĂŒbernehmen als MĂ€nner.

"Gierige" Arbeit ist eintrÀglicher, aber unflexibler

Die LohnlĂŒcke ist generell in denjenigen Branchen grösser, die Claudia Goldin als "gierige" Berufe bezeichnet, etwa im Finanz- und Rechtswesen. Diese Berufe erfordern mehr direkte Anwesenheit und Kundenkontakte, sie sind hochgradig interdependent und lassen sich kaum mit beruflichem EinzelkĂ€mpfertum vereinbaren. Diese gierigen Berufe bezahlen ĂŒberdurchschnittliche Stundenlöhne, wenn Überstunden gemacht werden oder die Personen in solchen Berufen weniger FlexibilitĂ€t und VerfĂŒgungsmacht ĂŒber ihre Zeit haben. Das geschlechtsspezifische EinkommensgefĂ€lle verringert sich in Bereichen wie Technik oder Naturwissenschaften: Hier sind die Berufe flexibler gestaltet, aber auch weniger eintrĂ€glich (mit Ausnahme der Linienpiloten). In den Bereichen des Gesundheitswesens mit einem hohen Anteil an SelbstĂ€ndigen ist die LohnlĂŒcke relativ gross. Zudem weitet sich die LohnlĂŒcke im Verlauf des Arbeitslebens aus. Frauen mit Kindern sind am stĂ€rksten betroffen.

Die LohnlĂŒcke - ein Problem der Gleichstellung innerhalb der Partnerschaft

Ein Mann kĂŒmmert sich um die WĂ€sche und ein Kleinkind
"Paargleichheit", wenn Paare mehr miteinander teilen, trÀgt zur wirtschaftlichen Gleichstellung bei. © istock/FatCamera

Kurzum: Goldin hat gezeigt, dass das geschlechtsspezifische LohngefÀlle nicht einfach ein Problem der Diskriminierung am Arbeitsplatz ist. Es ist auch nicht, wie sie ihrem Stockholmer Publikum sagte, "nur eine Frage der Familienwahl". Vielmehr geht es um das, was sie als "Paargleichheit" oder "Ungleichheit" bezeichnet, insbesondere bei sehr gut ausgebildeten Paaren mit Kindern.

Nach Claudia Goldins Ansicht könnten entscheidende Fortschritte erzielt werden, wenn flexible Berufe produktiver gemacht wĂŒrden, etwa durch vermehrte Nutzung der wĂ€hrend der Covid-19-Pandemie entwickelten Homeoffice-Modelle. Aber selbst dann "kann das letzte Kapitel erst geschrieben werden, wenn Paare mehr miteinander teilen."

Die Macht des Teilens

Das Privatleben von Claudia Goldin ist ein Beweis dafĂŒr, wie stark gemeinsame Arbeit machen kann. Zusammen mit dem Harvard-Ökonomen Lawrence Katz, ihrem Ehemann, hat sie zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zur wirtschaftlichen Gleichstellung in Amerika und ihrem Zusammenhang mit der Zunahme der Bildung sowie zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der VerhĂŒtungsrevolution in den 1960er-Jahren verfasst.

Eine Frau und ein Mann mit einem Golden Retriever kommen zu einer Veranstaltung.
Claudia Goldin und ihr Mann, der Harvard-Ökonom Lawrence Katz, mit ihrem "beeindruckenden" Haustier, dem Golden Retriever Pika. © Keystone/AFP/Lauren Owens Lambert

Claudia Goldin und ihr Mann haben keine Kinder; seit 1970 halten sie aber Golden Retrievers. Ihr aktuelles "beeindruckendes" Haustier, Pika, scheint fast so erfolgreich zu sein wie seine Besitzer. Der 13-jĂ€hrige Hund ist fĂŒr seine FĂ€higkeiten in der "FĂ€hrtensuche" ausgezeichnet worden, er ist fĂŒr Obedience-PrĂŒfungen ausgebildet und wurde auch schon als Therapiehund in einem Altersheim in der NĂ€he des Wohnortes des Paars in Cambridge, Massachusetts, eingesetzt.

Heute ist Claudia Goldin 77 Jahre alt. Sie weiss, dass der soziale und wirtschaftliche Wandel "einige Generationen erfordert" und dass Zeit und Geduld gefragt sind, um die volle Lohngleichheit von MĂ€nnern und Frauen zu erreichen. Zugleich sagt sie aber von sich, dass sie eine unverbesserliche Optimistin sei. Und da sie nach wie vor "bei Detektivarbeit am glĂŒcklichsten" ist, dĂŒrfen wir wohl mit weiteren Erkenntnissen zur hartnĂ€ckigen LohnlĂŒcke rechnen.

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