- Home
-
Private Banking
-
Market View & Insights
Warum Journaling mehr ist als bloss ein "Top Consumer Trend 2025": Eine Liebeserklärung ans Tagebuch. Ans Papier. Ans Schreiben von Hand.
Bei mir im Keller stapeln sich Bücher. Bunt, vergilbt, zerfleddert. Ich war vorhin dort unten und habe eines in die Hand genommen, ein korallfarbenes, ledriges, verschnürtes, habe den Knoten gelöst, es in der Mitte aufgeschlagen, da war ein Eintrag vom 25. Oktober 2015, die Schrift klein und rund, und nach ein paar Zeilen fand ich mich wieder in der kalten, chaotischen Gemeinschaftsküche des Studentenwohnheims in der regnerischen Bretagne. Die Sätze reflektierend, intuitiv. Das nächste Buch; hellgrüne Blumenwiese, harter Einband, ich blicke auf meine Gedanken von 2003, die Sätze eines Kindes, eckige, ungeübte Buchstaben.
Meine Tagebücher fühlen sich an wie eine Reise in eine Zeit, als Schulkinder noch von Hand Diktate schrieben, Studierende mit Heften und Textmarkern im Vorlesungssaal sassen, Menschen ihre Termine mit dünnen Kugelschreibern in ihre linierten Agenden eintrugen. Jede Schrift so individuell wie ein Fingerabdruck.
Inzwischen habe ich das Tagebuchschreiben verlernt. Mit dem Eintritt ins Berufsleben wurden die Einträge seltener, kürzer, gekünstelter. Dazumal glaubte ich, mich von dieser kindlichen Angewohnheit lösen zu müssen, denn eine neue Zeit war angebrochen: Dialog statt Nabelschau. Handlung statt Reflektion. Zukunft statt Vergangenheit.
Tagebücher gehörten in eine überwundene Welt, in die Welt der Brieffreundschaften, Postkarten und Füllfederhalter. Dabei hätte ich schon damals vorhersehen können: Das Tagebuchschreiben würde wiederauferstehen - als Trend, gar als Hype.
2025 ist es soweit: In dieser schnelllebigen, vernetzten, digitalen, zukunftsverliebten Welt wollen wir zurück zum Langsamen, Analogen, Haptischen. In der Zeitspanne von 2014 bis 2024 explodierte die weltweite Google-Suche nach "Journaling" um mehr als 230%; die Schreibpraxis gilt als einer der "Top Consumer Behaviour Trends 2025".
"Journaling" mag aktueller und attraktiver klingen als das gute alte Tagebuchschreiben, am Ende geht es aber um dasselbe: Wir schreiben mit einer gewissen Regelmässigkeit auf, was uns umtreibt. Möglichst fliessend, möglichst ohne nachzudenken. Das Schreiben kann der Verarbeitung von Lebenskrisen oder Traumata dienen, unser Ziel kann aber auch schlicht ein besseres Leben sein: Journaling bzw. Tagebuchschreiben hilft uns, selbstreflektierter, selbstbewusster, selbstgenügsamer zu werden. Muster zu erkennen. Bessere Entscheidungen zu treffen. Einige meinen gar: Psychotherapie war noch nie günstiger.
Heute setzen sich weltweit zehntausende von Menschen hin und üben sich im Tagebuchschreiben, schwören auf Schreibtipps von Selbsthilfe-Büchern wie "The Artist’s Way" oder dem druckfrischen "The Book of Shadow Work". Die 1951 geborene Autorin und Therapeutin Kathleen Adams verkündete unlängst: "Als ich mit meiner Arbeit anfing, gab es sechs Bücher über Journaling. Jetzt sind es wohl rund 25’000."
Zwar betonen die unzähligen "The Ultimate Guide to Journaling"-Anleitungen, dass jede und jeder selbst herausfinden sollte, ob man lieber auf dem Screen oder dem Papier Tagebuch führt. Doch seien wir ehrlich: Tagebuch und Handschrift gehören zusammen wie Workflow und Jira-Ticket.
Das erlebe ich selbst, als ich versuche, auf den Trend aufzuspringen, meinen jugendlichen Habitus von 2006 wieder zu entfachen, wieder zu meiner kreativen Selbstreflektion zurückzufinden. Ich sitze vor meinem neuen Tagebuch - einem kleinen, waldgrünen Heft -, und die leeren Seiten starren mich an, und ich merke: Ich bin es nicht mehr gewohnt, von Hand zu schreiben. Ich brauche mehr Überwindung, ich brauche mehr Zeit.
Und dann, nach anfänglichem Zögern, nach den ersten Sätzen, merke ich noch etwas: Meine Wörter werden wieder meine.
Meine Handschrift folgt keinem Microsoft- oder Web-Design, keiner Autokorrektur, da liegt keine Tastatur zwischen mir und diesem Text. Ich sehe sofort, ob ich hastig, wütend oder konzentriert bin. Meine Hand zwingt mich, langsamer und genauer zu denken. Meine Hand lehrt mich, meine Wörter treffender zu wählen - sie können nicht spurlos gelöscht und umgeschrieben werden. Meine Hand schreibt sich in meine Erinnerung ein, wie mein Tippen das nie schafft - Studien sind schon lange zur Erkenntnis gelangt, dass Schreiben von Hand unser Gehirn anregt.
Und überhaupt: Wie erholsam es ist, zu schreiben ohne dieses andauernde Aufblinken. Keine Ads, keine Nachrichten, keine Posts, keine Anrufe, keine grellen Fenster, die sich zwischen mich und meine Gedanken drängen.
Meine Aufmerksamkeit ist schon lange zur Währung verkommen. Beim Pendeln, bei der Arbeit, beim Feierabendbier. Das lässt mich erschöpft zurück - und treibt mich zurück zum Papier. Mit einer warmen Tasse Cappuccino in der einen, einem Stift in der anderen Hand. Und vor mir nichts ausser dieser leeren Seiten.