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Wie steht es um den europäischen Handel?

Der internationale Handel ist eine wirtschaftliche Säule für die europäischen Länder, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Nach Angaben der Weltbank ist der Anteil des Handels (Exporte plus Importe) am BIP der EU-Mitglieder in den letzten 50 Jahren von 40% auf 106% gestiegen, was die Vorteile des Freihandels innerhalb der Union und der vorteilhaften Handelsabkommen mit dem Rest der Welt widerspiegelt. Innerhalb der EU reichte der Handelsanteil im Jahr 2022 von 73% in Frankreich bis zu 389% in Luxemburg - die höchste Handelsabhängigkeit der Welt. Im Gegensatz dazu liegt der Handelsanteil in den USA bei nur 27% und in China bei 38%, was die europäischen Länder als extrem abhängig vom Handel erscheinen lässt. Ist das ein Problem?

Datum
Autor
Dr. Felix Kapfhammer, Economist
Lesezeit
10 Minuten
The Strategist EU trade
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Vorsicht - zerbrechlich!

Ökonomen predigen regelmäßig die Vorteile des Handels durch komparative Vorteile: Länder profitieren, wenn sie Güter und Dienstleistungen exportieren, die sie relativ günstig produzieren können, und Güter und Dienstleistungen importieren, die sie nur zu relativ hohen Kosten selbst herstellen können. Dies ist in der Praxis richtig, hängt aber von der Stabilität des Handels ab. Seit Beginn dieses Jahrzehnts haben zwei Ereignisse den europäischen Handel empfindlich gestört: die Pandemie und die russische Invasion in der Ukraine. Beide Ereignisse haben die europäischen Exporte und Importe stark beeinträchtigt und zu der jüngsten Inflationswelle und wirtschaftlichen Stagnation geführt. Die europäischen Volkswirtschaften werden sich letztlich von diesen Schocks erholen, aber die Energiekosten werden wahrscheinlich auf Jahre hinaus hoch bleiben, während Europa seine Abhängigkeit von billigen russischen Energieimporten reduziert. Die dramatischen Ereignisse haben die Anfälligkeit des Handels und die Gefahren der Importabhängigkeit aufgezeigt. Gleichzeitig hat das Ausbleiben von Handel die erheblichen Vorteile des Handels in Form niedrigerer Erzeuger- und Verbraucherpreise und eines höheren Wirtschaftswachstums deutlich gemacht. 

Abhängigkeit von Importen verringern

Die oben genannten Beispiele zeigen, dass Europa anfällig für Störungen im Handel ist. Der weitaus größte Teil seiner Exporte und Importe findet jedoch innerhalb der EU statt. Angesichts der beeindruckenden Stabilität des EU-Binnenmarkts ist die wirtschaftliche Anfälligkeit des Intra-EU-Handels (abgesehen von allgemeinen Konjunkturschwankungen) vernachlässigbar. Betrachtet man nur den Extra-EU-Handel, so sinkt der Handelsanteil der EU auf 25% und liegt damit leicht unter jenem der USA. Die Anfälligkeit Europas liegt jedoch in seinem Mangel an natürlichen Ressourcen, insbesondere an fossilen Brennstoffen, die importiert werden müssen. Um diese Schwäche auszugleichen, haben die politischen Entscheidungsträger die Notwendigkeit erkannt, die Energieimporte zu diversifizieren und die Abhängigkeit von einem einzigen Land zu verringern. Initiativen wie der Bau von LNG-Terminals für den Import von Erdgas sind bereits im Gange. Langfristig könnte der Übergang zu erneuerbaren Energien das Problem der Energieimporte drastisch reduzieren und den Weg für eine Alternative zur Diversifizierung der Importe ebnen: dem Onshoring. 

Sowohl die USA als auch die EU versuchen derzeit, wichtige Industrien wie die Halbleiterherstellung und erneuerbare Energien mit hohen Subventionen wieder ins Land zu holen. Onshoring sorgt zwar für stabilere Lieferketten und bietet Sicherheit vor geopolitischen Spannungen, geht aber in der Regel auf Kosten von Handelsvorteilen, was zu Preisinflation und geringerem Wirtschaftswachstum führt. Onshoring sollte daher nur als letztes Mittel in Betracht gezogen werden.

Handelsbeziehungen navigieren

Die USA und China sind die wichtigsten Handelspartner der EU, gefolgt von Großbritannien und der Schweiz. Während die Handelsbeziehungen mit den westlichen Ländern stabil sind, stellt sich die Situation mit China anders dar. Der Handel mit China bietet zwar aufgrund seiner Größe und seines raschen Wachstums großes Potenzial, Europa nimmt jedoch die aufstrebende Macht zunehmend als ernsthaften Konkurrenten und nicht mehr nur als Markt wahr. In vielen Sektoren, von der Informationstechnologie über erneuerbare Energien bis hin zur Automobilindustrie, hat China damit begonnen, Produkte nicht mehr zu kopieren, sondern zu erneuern, und nimmt Europa langsam Marktanteile auf dem Weltmarkt ab. Neben der wirtschaftlichen Bedrohung haben mit dem Aufstieg Chinas auch die politischen Spannungen zwischen dem Westen und China zugenommen und die Handelsaussichten eingetrübt. Dennoch haben Europa und China ein starkes Interesse daran, ihre Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig hat sich Europa in Asien bereits nach Süden orientiert und verhandelt derzeit Freihandelsabkommen mit Indien und einer Reihe südostasiatischer Länder. Erfolgreiche Verhandlungen würden der EU einen besseren Zugang zu alternativen Märkten verschaffen und ihre Abhängigkeit von China verringern.

Post aus den USA

Die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen im November könnten Auswirkungen auf den Handel mit Europa haben. Während eine Regierung Biden wahrscheinlich die guten Handelsbeziehungen mit Europa aufrechterhalten würde, hat Trump bereits damit gedroht, einen Zoll von 10% auf alle Importe in die USA zu erheben (der durchschnittliche Zoll auf EU-Importe liegt derzeit bei etwa 2%). Ein solcher Schritt wäre ein erhebliches Handelshemmnis und eine Belastung für beide Volkswirtschaften, da die EU wahrscheinlich Vergeltungsmaßnahmen ergreifen würde.

Die zyklische Natur des Handels

Nach Angaben der World Integrated Trade Solution waren 2021 die wichtigsten Export- und Importgüter der EU Maschinen und elektronische Geräte (24 %), Chemikalien (18 %) und Verkehr (14 %). Die Nachfrage nach diesen Gütern schwankt in der Regel stark mit dem Konjunkturzyklus, was zum Teil erklärt, warum Exporte und Importe viel volatiler sind als andere Komponenten des BIP. Ein hohes Maß an Handelsabhängigkeit impliziert daher ein zyklischeres Wirtschaftswachstum, was sich in der Volatilität der Aktienkurse niederschlagen könnte. 

Zusammenfassung

Handel ist unverzichtbar, da er die Erzeuger- und Verbraucherpreise senkt und durch Effizienzgewinne Wirtschaftswachstum ermöglicht. Um diese Vorteile zu erhalten, muss Europa gute Handelsbeziehungen aufrechterhalten, seine Abhängigkeit von einzelnen Ländern bei der Einfuhr wichtiger Güter verringern und, wenn alle anderen Maßnahmen fehlschlagen, die Produktion dieser Güter wieder innerhalb der eigenen Grenzen aufnehmen. Europa ist derzeit mit wachsenden geopolitischen Spannungen, den Folgen der Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine konfrontiert. Solche Herausforderungen hat der Kontinent bereits in der Vergangenheit gemeistert und kann dies auch in Zukunft tun, um einen stabilen und vorteilhaften Handel in den kommenden Jahren zu gewährleisten.

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