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Market View & Insights
Die längste Zeit seines Lebens fühlte sich James M. Buchanan als bekämpfter Aussenseiter. Doch in unserer zunehmend polarisierten Welt feiern seine libertären Überzeugungen ein Comeback.
Er ist nicht so bekannt wie seine klassisch libertären Nobelpreisträger-Zeitgenossen Friedrich Hayek und Milton Friedman. Doch der Beitrag von James M. Buchanan zur Wirtschaftswissenschaft war ebenso bedeutend - wenn nicht bedeutender. Sein unerschütterlicher Glaube, wonach freie Märkte, persönlicher Nutzen und Eigeninteresse die entscheidenden Triebkräfte des wirtschaftlichen und politischen Lebens sind, fand Anhängerinnen und Anhänger von Washington bis Santiago de Chile.
Heute, da die liberale Demokratie in einer Krise steckt, erhält Buchanans Aufruf zu einer, wie er es nannte, "Politik ohne Romantik" neue Aufmerksamkeit.
Buchanan war ein wahrhaft origineller Denker. Zu einer Zeit, als sich die Wirtschaftstheorie ausschliesslich mit ökonomischen Fragen wie dem Kauf und Verkauf von Gütern und Dienstleistungen befasste, betrat er Neuland: Er wandte ökonomische Prinzipien kurzerhand auch auf politische Prozesse an.
Über viele Jahrzehnte hinweg entwickelte er eine Theorie der Entscheidungsfindung im öffentlichen Raum, die als Public-Choice-Theorie oder Neue Politische Ökonomie in die Geschichte einging. 1962 erklärte er sie erstmals in seinem Buch "The Calculus of Consent" ("Das Kalkül der Zustimmung"), das er zusammen mit Gordon Tullock verfasste. Bis heute gilt es als sein bekanntestes Werk. Die Public-Choice-Theorie überträgt das Konzept des Nutzens, der aus dem wirtschaftlichen Tausch zwischen Individuen entsteht, auf die politische Entscheidungsfindung.
Damit wird der politische Prozess zu einem Mittel der Zusammenarbeit, um gegenseitige Vorteile zu erzielen - wobei die Ergebnisse auch von den "Spielregeln" abhängen, sprich von der Verfassung im weitesten Sinne.
Die politischen Implikationen von Buchanans Theorie sind von grosser Bedeutung: Seine Idee hinterfragt das grundlegende Konzept einer wohlwollenden Regierung, die altruistisch Programme ausarbeitet. Denn laut Buchanan kooperieren Bürgerinnen und Bürger und Gesetzgeber, um gegenseitige Vorteile zu erzielen - nicht, um Ressourcen umzuverteilen.
Politikerinnen und Politiker handeln aus Eigeninteresse - so, wie wir alle. Nur: Ihr Eigeninteresse kann weitaus grösseren Schaden anrichten. Ihre kostspieligen Sozialprogramme müssen über Steuern finanziert werden. Gegen diesen Zugriff auf ihr Portemonnaie können sich die Bürgerinnen und Bürger kaum wehren.
Daher hielt Buchanan die Sozialversicherung für ein "Schneeballsystem". Und im Gesellschaftsvertrag liberaler Demokratien, in seinen progressiven Einkommenssteuern und Umverteilungsprogrammen sah er eine Form "lizenzierten Diebstahls".
James M. Buchanan kam 1919 auf einer Farm in Tennessee zur Welt. Zwar war sein Grossvater einst Gouverneur im Bundesstaat gewesen, doch Buchanan wuchs während der Grossen Depression in bescheidenen Verhältnissen auf - was er später als "vornehme Armut“ umschrieb.
Sein Kriegsdienst bei der US-Marine bestärkte ihn in der Überzeugung, dass das Establishment der Ostküste auf Südstaatler herabschaute und sie diskriminierte. Buchanan meinte sogar, seine Nobelpreisverleihung sei ein Sieg über die "akademische Elite des Ostens" - errungen von jemandem, der "stolz darauf war, Mitglied der grossen Ungewaschenen zu sein".
Sein herausragender Intellekt führte ihn an die Universität: 1945 begann er sein Graduate-Studium an der University of Chicago, 1948 erwarb er seinen Doktortitel in Volkswirtschaft.
Damals gehörte Milton Friedman bereits zur Fakultät der Wirtschaftswissenschaften, bald darauf auch Friedrich Hayek. Beide prägten und lehrten eine neue Form marktwirtschaftlicher Ökonomie. Sie verstanden sich als Teil einer wachsenden Gegenbewegung gegen die keynesianische Politik des "New Deal" - des Massnahmenpakets zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise.
Während seines Studiums in Chicago trat Buchanan auch der Mont Pelerin Society bei, einer von Hayek gegründeten internationalen Organisation konservativer Intellektueller, die sich gegen kollektivistische Tendenzen wandte.
Die Jahre 1956 und 1957 verbrachte Buchanan im Rahmen eines Stipendiums in Italien. Dabei machte er eine Beobachtung: Seine Generation von Amerikanerinnen und Amerikanern hatte ein allzu romantisches Bild von Politik. Die Italienerinnen und Italiener der Nachkriegszeit hingegen schienen ihm weitaus skeptischer und realistischer.
Zurück in den USA lehrte Buchanan an der University of Virginia und bekam die Gelegenheit, seinen Realismus einem Praxistest zu unterziehen. Während seiner Amtszeit wuchs nämlich der Widerstand gegen das Urteil des Obersten Gerichtshofs zur Aufhebung der Rassentrennung an Schulen.
Zusammen mit einem neuen Kollegen der University of Virginia argumentierte Buchanan in einem Papier, das Kernproblem der Segregation liege darin, dass staatliche Schulen ein "Monopol" darstellten. Durch Privatisierung und steuerfinanzierte Bildungsgutscheine könne und solle man dieses Monopol aufbrechen: Eltern sollten die Schulen ihrer Kinder selbst wählen können.
Interessanterweise änderte Buchanan in den 1980er-Jahren seine Meinung. Nun warnte er, dass ein staatlich gefördertes, unreguliertes Gutscheinsystem für Schulen zu den "Übeln der rassen-, klassen- und kulturbedingten Segregation" führen und damit ein exklusives System für Eliten schaffen könnte.
Seine eigentlichen Hauptgegnerinnen und -gegner sah Buchanan in den Gewerkschaften - er schimpfte sie "Arbeitsmarkt-Monopolbewegung" -, in Linksliberalen und keynesianischen Ökonominnen und Ökonomen. Diese betrachtete er als eine "herrschende Klasse", die gegen den freien Markt in den Krieg ziehe.
Insgesamt forderten die 1960er-Jahre klassische Liberale wie Buchanan noch mehr heraus als die 1950er-Jahre. So lancierte etwa US-Präsident Lyndon B. Johnson das ambitionierte Reformprogramm "War on Poverty", das zu einer "Great Society" führen sollte - was Buchanan und seine Kolleginnen und Kollegen als unnötige Ausweitung des Staatsapparats empfanden.
Alles änderte sich mit der Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten im Jahr 1980. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Buchanan mit dem Dekan überworfen und die University of Virginia verlassen. Zunächst zog es ihn an die University of California, Los Angeles (UCLA), dann wechselte er an die Virginia Tech und schliesslich 1983 an die George Mason University in Fairfax, Virginia - eine Institution, die das Wall Street Journal als "Pentagon der konservativen Academia" bezeichnete.
In den 1980er-Jahren, vor allem nach der Verleihung des Nobelpreises, erreichte Buchanans politischer Einfluss seinen Höhepunkt - und das nicht nur in den USA.
Für Buchanan ergab sich beispielsweise die Gelegenheit, nach Chile zu reisen. Einige Jahre zuvor, 1973, hatte Augusto Pinochet den Sozialisten Salvador Allende in einem Militärputsch gestürzt. Während Buchanan Ratschläge erteilte, halfen einige seiner Anhängerinnen und Anhänger, die chilenische Wirtschaft umzustrukturieren. Gewerkschaften wurden verboten, die Sozialversicherungen sowie das Gesundheitswesen privatisiert.
Gleichwohl unterstützten Buchanans Schriften eine gewisse Umverteilung. In seinem 1975 erschienenen Buch "The Limits of Liberty: Between Anarchy and Leviathan" ("Die Grenzen der Freiheit: Zwischen Anarchie und Leviathan") schlug er einen Gesellschaftsvertrag für einen "produktiven" Staat vor. Dieser umfasste auch steuerfinanzierte Güter und eine gewisse Sozialversicherung. Zudem forderte er einen Grenzsteuersatz von 100 % auf Erbschaften oberhalb eines bescheidenen Betrags. Das sollte die Entstehung einer neuen Aristokratie in den USA verhindern und die Chancengleichheit sichern.
Buchanan starb 2013 auf seiner abgelegenen Farm in Virginia - weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Seine Grundgedanken leben aber weiter.
In ihrem Nachruf bemerkte die New York Times, er habe eine "Generation konservativen Denkens über Defizite, Steuern und die Grösse des Staates" geprägt. In der heutigen Welt findet dieses Denken ein grösseres Echo denn je.