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Nachhaltigkeit

Angeklagt wegen Klimawandels

Die Wissenschaft kann neuerdings simulieren, wie das Klima ohne menschlichen Einfluss aussehen würde. Das hat weitreichende Folgen: US Staaten und Unternehmen werden bereits wegen Klimakatastrophen angeklagt - und verurteilt. 

Datum
Autor
Simon Usborne, Gastautor
Lesezeit
10 Minuten
Zwei Teenager im verschneiten Montana
Zwei von 16: Jugendliche wie Badge und Lander Busse haben den Bundesstaat Montana verklagt, weil ihr Recht auf eine gesunde Umwelt verletzt wird. Der Schlüssel zum Erfolg ihrer Klage: Attribution Science. © MaGhew Hamon/NYT/Redux/laif

Im August dieses Jahres war ein kleines ländliches Gericht im Bundesstaat Montana, USA, der Schauplatz einer historischen Entscheidung. 16 junge Menschen traten in einem zwei Monate langen Verfahren als Klägerinnen und Kläger gegen den Bundesstaat auf. Ihr Vorwurf: Die Energiepolitik Montanas schüre den Klimawandel und verstosse somit gegen die Staatsverfassung. Denn in dieser sei das Recht auf eine "saubere und gesunde Umwelt" verankert.

Rikki Held, die Hauptklägerin in diesem Verfahren, wuchs in Montana auf einer Farm auf, die in einem Landstrich mit reichen Kohlevorkommen - und entsprechend vielen Bergbauunternehmen - liegt. Zudem zählt Montana 5000 Gasbohrlöcher, 4000 Ölquellen und vier Ölraffinerien. Held gab zu Protokoll, dass während Hitzewellen von über 43° Celsius ein Lauffeuer die Stromleitungen erfasst und damit die Wasserpumpen funktionsuntüchtig gemacht hatte, mit denen die Familie Held ihre Herden tränkte. 

"Das ist meine Existenz", sagte sie unter Tränen vor Gericht. "Dort ist meine Heimat - und was dort geschieht, hat Folgen für mein Wohlergehen, das Wohlergehen meiner Familie. Und das Wohlergehen meiner Gemeinschaft."

"Attribution Science": Ein Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit

Rikki Held und ihre Mitklägerinnen und Mitkläger wurden von einer gemeinnützigen Anwaltskanzlei vertreten. Als Kernstück ihrer Klage sollten sich die Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erweisen, welche die Ursachen für extreme Wetterereignisse und die von ihnen verursachten Katastrophen wie Überschwemmungen und Brände identifizieren - und damit Verantwortungen zuschreiben.

Die sogenannte "Attribution Science", also die wissenschaftliche Zuordnung von Verantwortung für die Effekte und Folgen des Klimawandels, hat sich zu einem wirkungsstarken Aufklärungsinstrument in Klimafragen entwickelt. Inzwischen kommt es sogar gegen Regierungen und Unternehmen zum Einsatz, die im Verdacht stehen, den Klimawandel zu fördern.  

Umgefallener Baum auf der Strasse
Kann man die Ursachen für extreme Wetterereignisse und die von ihnen verursachten Schäden - hier der Hurricane Otis 2023 in Mexiko - identifizieren, kann man auch Verantwortungen zuschreiben. © KEYSTONE/ Xinhua/Jesus Espinosa

In der Klage gegen den Bundesstaat Montana sagten verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus und belegten, dass beispielsweise die immer häufigeren Temperaturextreme, die Flächenbrände auslösen können, grösstenteils auf den von Menschen verursachten Klimawandel zurückgehen. 

Letztendlich gab das Gericht der Klage der jungen Menschen statt. Es befand, dass die umweltpolitische Gesetzgebung ("Environmental Policy Act") des Bundesstaates verfassungswidrig sei, da sie den Klimafolgen von bewilligten, auf fossilen Energiequellen beruhenden Projekten nicht genügend Rechnung trage. Tausende vergleichbarer Fälle werden inzwischen weltweit vor Gericht gebracht; der Fall Montana wurde von Anwältinnen und Aktivisten als neue Frontlinie im Kampf für unseren Planeten gefeiert.

"Dieses Urteil ist ein Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit", sagte Delta Merner, wissenschaftliche Leiterin am Science Hub for Climate Litigation bei der amerikanischen Union of Concerned Scientists (Vereinigung besorgter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler) im Anschluss an die Urteilsverkündigung. "Ob Regierungen, auf fossile Brennstoffe spezialisierte Unternehmen oder Industrieverbände: Umweltverschmutzer und ihre Wegbereiter zur Verantwortung zu ziehen ist ein wesentlicher Beitrag zu wirkungsvollen Klimaschutzmassnahmen."

Klimaklagen werden häufig eingesetzt, um traditionell untervertretene Gruppen zu verteidigen und zu entschädigen. Kürzlich zog eine Gemeinschaft in Peru ein deutsches Energieunternehmen vor Gericht und brachte Argumente aus der "Attribution Science" bei, um aufzuzeigen, inwiefern der Klimawandel dazu führte, dass ein von einem rasch dahinschmelzenden Gletscher gespeister See über die Ufer trat, wodurch sich das Überschwemmungsrisiko erhöhte.  

Rückwirkende Klimamodellierung: Wetter minus menschliche Einflüsse

Wie beweist man, dass jemand für Klimakatastrophen Verantwortung trägt? Der betreffende Wissenschaftsbereich besteht seit über 20 Jahren und wurde im Wesentlichen von Katastrophen geprägt. Nachdem Europa im Jahr 2003 von einer für Zehntausende tödlichen Hitzewelle erfasst worden war, kamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des UK Met Office, des britischen Amtes für Wetter und Klima, und der Universität Oxford zum Schluss, dass menschliche Einflüsse das Risiko derartiger extremer Hitzewerte mehr als verdoppelt haben.

Satellitenbild eines Taifuns
© shuGerstock/Strahil Dimitrov

Bei der Ermittlung dieses Zusammenhangs und den zugehörigen Messversuchen steht ein Ansatz im Mittelpunkt: die retrospektive Klimamodellierung. Vereinfacht ausgedrückt erstellen Klimawissenschaftlerinnen und Klimawissenschaftler Modelle, welche die Emission von Treibhausgasen und die Temperatur der Meeresoberfläche abbilden. Dann nehmen sie zwei Simulationen vor. Die erste umfasst Emissionen zur Schaffung von Referenzwerten, die dem heutigen Klima entsprechen. In der zweiten Simulation werden alle menschlichen Einflüsse ausgeklammert, um das Klima in einer Welt ohne Industrialisierung und ohne massiven CO2-Ausstoss in die Atmosphäre abzubilden.

Ein solches Modell liefert keinen Aufschluss darüber, wie das Wetter von Tag zu Tag ausgesehen hätte, wenn es keinen von Menschen verursachten Klimawandel gäbe. Aber: Dank der immer effizienteren Computer, die bei diesen Modellierungen zum Einsatz kommen, können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Simulationen vergleichen und immer schnellere und zuverlässigere Aussagen wie diese machen: Die Hitzewellen, die Europa 2023 erneut heimsuchten, wären ohne menschlichen Einfluss beinahe unmöglich gewesen.

Solche Modellierungen lassen sich auch auf die Risikoprognose ausweiten. So erliess das Met Office letztes Jahr in Grossbritannien eine Warnung, nachdem die Temperaturen zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen 40° Celsius erreicht hatten: Sie besagte, dass bei anhaltend hohen Emissionen bis zum Ende des Jahrhunderts alle drei bis vier Jahre mit Sommertemperaturen von 40° Celsius zu rechnen sei.

Klimadaten und Investitionsentscheide

Diese Prognosen werden ausserhalb von Gerichten bei anstehenden Entscheidungen beigezogen. In Branchen wie der Landwirtschaft oder mit Blick auf die Verkehrsinfrastruktur sind Klimadaten von entscheidender Bedeutung, wenn es um Investmententscheide in der Höhe von Milliarden Euro geht: Wenn Hitzewellen immer wahrscheinlicher werden und sich durch den menschengemachten Klimawandel noch verschärfen, macht das künftig zum Beispiel Verbesserungen bei Hochspannungsleitungen und Bahninfrastrukturen erforderlich. In dieser Situation können Investorinnen und Investoren zwei Szenarien auch finanziell gegeneinander abwägen: Die potenziellen Kosten dieser präventiven Massnahmen einerseits gegen die Kosten von Massnahmen zur Minderung des Klimawandels andererseits.

Waldbrände
© MaG Palmer/Unsplash

Es kommt natürlich auch vor, dass wissenschaftliche Beweise die entgegengesetzte Vermutung bestätigen: Im letzten Jahr lautete die Schlussfolgerung einiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass eine verheerende Dürre in Argentinien und Uruguay mit oder ohne menschengemachte Emissionen eingetreten wäre. Wie dem auch sei: Die Fähigkeit zur Ermittlung der wahrscheinlichsten Ursache einer katastrophalen Hitzewelle oder Flut bedeutet, dass derartige Ereignisse nicht länger mit historischen Ereignissen verglichen oder als "höhere Gewalt" abgetan werden können. 

Letztendlich zielen die Aktivisten und Anwältinnen sowie die von ihnen vertretenen Personen darauf, dass diese drohenden neuartigen, kostenintensiven Rechtsverfahren dazu beitragen, dass Unternehmen und Regierungen sich vermehrt für die Erreichung der Klimaziele einsetzen. "Solche Verfahren können sich zu einem wesentlichen Treiber für die Minderung von Treibhausgasemissionen einerseits, aber auch für Anpassungsmassnahmen seitens der öffentlichen Hand und des Privatsektors andererseits entwickeln." So stand es 2017 in einem Artikel von Nature Geoscience.
Der Erfolg der jugendlichen Klägerinnen und Kläger vor dem Richter in Montana hat eine Reihe weiterer Klagen in anderen emissionsintensiven US-Bundesstaaten inspiriert. "Es ist ein gigantischer Erfolg", so Badge Busse (15), der in Montana mitgeklagt hatte, gegenüber der New York Times nach dem Urteil. "Es ist einfach unglaublich schön. Wir hoffen, das ist erst der Anfang."

 

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